97 weitere Morde: Todespfleger angeklagt
Die wohl größte Mordserie der deutschen Kriminalgeschichte landet wieder vor Gericht. Angeklagt ist nicht nur der bereits verurteilte Täter, sondern auch frühere Krankenhauskollegen
Oldenburg Im Krankenhaus sterben täglich Menschen – dass jemand dabei nachhilft, damit rechnet niemand. Der Pfleger Niels H. tat dies möglicherweise mehr als 100 Mal. Wegen sechs Taten wurde der 42-Jährige bereits zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Jetzt erhob die Staatsanwaltschaft neuerlich Anklage gegen den Mann: Wegen Mordes an 97 Patienten soll sich der Ex-Krankenpfleger erneut vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, aus Langeweile und Geltungsdrang 62 Patienten am Klinikum Delmenhorst und 35 am Klinikum Oldenburg umgebracht zu haben. „Er ist weitgehend geständig“, sagte Oberstaatsanwalt Martin Koziolek am Montag.
Auf das Landgericht Oldenburg kommt jetzt ein aufwendiger Prozess um die wohl größte Mordserie in der deutschen Kriminalgeschichte zu. Der frühere Pfleger soll schwer kranken Patienten eigenmächtig verschiedene Medikamente gespritzt haben, die unter anderem lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen auslösten. „Dies tat er, um seine Fähigkeiten im Bereich der Reanimation gegenüber Kollegen und Vorgesetzten präsentieren zu können und um seine Langeweile zu bekämpfen“, sagte Koziolek. Den Tod der Patienten habe er billigend in Kauf genommen.
Die Anklage ist das Ergebnis jahrelanger Ermittlungen. Hunderte Patientenakten hatten die Fahnder ausgewertet und mehr als 100 Leichen ausgraben lassen, um sie auf Rückstände von Medikamenten zu untersuchen. Im November gingen die Ermittler dann mit einer grauenhaften Zahl an die Öffentlichkeit: 100 Menschen soll Niels H. auf dem Gewissen haben – neben den sechs, wegen deren Tod er bereits verurteilt wurde. In drei Fällen konnten die Experten allerdings nicht mit Sicherheit sagen, ob die gefundenen Medikamente nicht von Ärzten verordnet waren. Deshalb fehlen diese in der Anklage. Die Akten dazu umfassen zehn Umzugskartons. Angesichts der vielen Opfer könnte das Verfahren zur logistischen Herausforderung werden. Die voraussichtlich hohe Zahl von Nebenklägern und deren Vertretern würde die Kapazitäten des Landgerichts sprengen.
Das Ausmaß der mutmaßlichen Mordserie war erst nach und nach ans Licht gekommen. Eine Krankenschwester hatte Niels H. im Sommer 2005 auf der Delmenhorster Intensivstation auf frischer Tat ertappt. Wegen dieses einen Falls stand er in einem ersten Prozess vor Gericht. Schon damals gab es Hinweise, dass er möglicherweise noch mehr Patienten tötete.
Als Angehörige nicht locker ließen, kam es zu einem zweiten Prozess, in dem er sich wegen fünf Taten verantworten musste. In diesem Verfahren zeigte sich schnell, dass die Zahl der Opfer wahrscheinlich noch deutlich höher ist. Eine Sonderkommission der Polizei rollte den Fall schließlich neu auf. Auch Klinikmitarbeiter gerieten ins Visier der Ermittler. Die Staatsanwaltschaft hat deshalb auch sechs Delmenhorster Mitarbeiter wegen Tötung durch Unterlassen angeklagt. Gegen Mitarbeiter der Oldenburger Klinik laufen die Ermittlungen aktuell noch.