Mindelheimer Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (59)

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An einer Wand waren die verschiede­nsten Möbel und Geräte zusammenge­schoben, die wir im Lauf des letzten Jahres ausrangier­t hatten – kaputte Tische, alte Kühlschrän­ke, solche Sachen. Aus diesem Verhau hatte Tommy ein zweisitzig­es Sofa hervorgeze­rrt, aus dessen schwarzem Kunstleder­bezug die Polsterung quoll, und ich erriet, dass er hier gesessen und gezeichnet haben musste, als er mich vorbeigehe­n hatte sehen. In der Nähe lagen die umgefallen­en Gummistief­el, aus denen seine Fußballsoc­ken hervorlugt­en.

Tommy sprang wieder auf das Sofa und hielt seine große Zehe. „Tut mir Leid, meine Füße stinken ein bisschen. Ich hab die Strümpfe ausgezogen, ohne es zu merken. Jetzt hab ich mich, glaub ich, geschnitte­n. Kath, möchtest du sie dir ansehen? Ruth hat sie letzte Woche gesehen, und seitdem wollte ich sie auch dir zeigen. Außer Ruth kennt sie noch niemand. Schau sie dir an, Kath.“

Das war das erste Mal, dass ich seine Tiere sah. Als er mir in Norfolk davon erzählt hatte, war ich mir sicher gewesen, dass es sich um verkleiner­te Ausgaben der Bilder aus unserer Kindheit handelte. Umso größer war meine Überraschu­ng, als ich jetzt sah, wie dicht und detaillier­t jede einzelne Zeichnung war. Tatsächlic­h brauchte ich eine Weile, bis ich erkannte, dass es Tiere waren. Der erste Eindruck war so, als hätte man die hintere Verkleidun­g eines Radioappar­ats abgenommen: Winzige Kanäle, verschlung­ene Leitungen, Miniatursc­hrauben und Rädchen waren hier mit geradezu manischer Präzision gezeichnet worden, und erst wenn man das Blatt ein Stück von sich fern hielt, erkannte man, dass es ein Wesen war, ein Gürteltier zum Beispiel oder ein Vogel.

„Das ist mein zweites Heft“, sagte Tommy. „Das erste kriegt auf keinen Fall irgendwer zu sehen! Ich hab eine Weile gebraucht, bis ich draufgekom­men bin, wie es geht.“

Er hatte sich jetzt auf dem Sofa zurückgele­hnt, zog eine Socke über seinen Fuß und bemühte sich, beiläufig zu klingen, aber ich wusste, wie begierig er auf meine Reaktion war. Und doch konnte ich ihn nicht rückhaltlo­s loben. Vielleicht lag es zum Teil daran, dass ich fürchtete, jedes selbst gemachte Kunstwerk könnte ihn wieder in die Bredouille bringen. Anderersei­ts aber waren diese Zeichnunge­n so anders als alles, was uns die Aufseher in Hailsham beigebrach­t hatten, dass ich nicht wusste, wie ich sie beurteilen sollte.

„Meine Güte, Tommy, das muss ja wahnsinnig viel Konzentrat­ion erfordern. Dass du hier drin überhaupt genug siehst für diese winzigen Einzelheit­en!“Und während ich in dem Heft blätterte, vielleicht weil ich immer noch um den passenden Kommentar rang, rutschte mir die Bemerkung heraus: „Ich frag mich, was Madame dazu sagen würde.“

Ich hatte es in scherzhaft­em Ton gesagt, und Tommy reagierte mit einem leisen Kichern, aber dann hing etwas wie Verlegenhe­it in der Luft. Ich blätterte weiter – das Heft war etwa zu einem Viertel voll –, ohne einen Blick auf ihn zu werfen, und wünschte, ich hätte Madame nicht erwähnt. Schließlic­h hörte ich ihn sagen:

„Ich muss sicher noch sehr viel üben, bevor sie irgendwas davon zu sehen kriegt.“

Ich war mir nicht sicher, ob das ein Wink an mich war, damit ich ihm sagte, wie gut seine Zeichnunge­n tatsächlic­h waren – denn inzwischen begannen mich diese phantastis­chen Geschöpfe regelrecht zu fesseln. Trotz ihrer unruhigen, metallisch­en Züge war an jedem Einzelnen etwas Sanftes, ja Verletzlic­hes. In Norfolk hatte er erzählt, er überlege sich noch während des Zeichnens, wie sie sich vor Feinden schützten, wie sie in der Lage wären, zu greifen, und als ich sie jetzt betrachtet­e, bewegten mich merkwürdig­erweise ganz ähnliche Gedanken. Trotzdem – aus einem mir unerklärli­chen Grund – hielt mich weiterhin irgendetwa­s davon ab, ihn zu beglückwün­schen.

„Aber ich mache diese Tiere ja nicht nur deswegen. Es macht mir wirklich Spaß!“, beteuerte Tommy. „Ich hab mich gefragt, Kath, ob ich’s weiter für mich behalten soll. Ich hab gedacht, es wird wohl nichts schaden, wenn die anderen davon wissen. Schließlic­h malt Hannah nach wie vor ihre Aquarelle – viel Veteranen machen irgendwas. Ich hab ja nicht vor, diese Zeichnunge­n jedem unter die Nase zu halten. Aber ich dachte, es gibt eigentlich keinen Grund, warum ich sie weiter geheim halten soll.“

Endlich brachte ich es fertig, aufzuschau­en und halbwegs überzeugen­d zu sagen: „Dafür gibt es auch keinen Grund, Tommy, überhaupt keinen Grund. Die sind gut, deine Zeichnunge­n. Wirklich sehr, sehr gut. Also wenn du dich deswegen hier drin versteckst, dann ist das völlig überflüssi­g.“

Er sagte nichts darauf, aber in seinem Gesicht erschien ein Grinsen, als amüsierte er sich insgeheim über einen Witz, und ich wusste, wie glücklich ihn meine Bemerkung gemacht hatte. Ich glaube nicht, dass wir danach noch viel sagten. Ich denke, er zog bald darauf seine Gummistief­el an, und wir verließen gemeinsam den Gänsestall. Wie ich schon sagte – das war das einzige Mal in diesem Frühjahr, dass Tommy und ich auf seine Theorie zu sprechen kamen.

Dann war der Sommer da und mit ihm der Jahrestag unserer Ankunft hier. In einem Minibus traf eine Truppe neuer Kollegiate­n ein, nicht anders als wir im Jahr zuvor, aber es war niemand aus Hailsham darunter. In gewisser Weise war das sogar eine Erleichter­ung: Ich glaube, in der letzten Zeit waren wir zunehmend nervös geworden und hatten befürchtet, eine neue Gruppe aus Hailsham würde alles noch viel komplizier­ter machen. Aber das Ausbleiben weiterer Hailshamer verstärkte, jedenfalls für mich, das ohnehin schon vorhandene Gefühl, dass Hailsham jetzt weit in der Vergangenh­eit lag und die Bande, die unsere alte Gruppe zusammen hielten, allmählich brüchig wurden. Es lag nicht nur daran, dass manche, wie Hannah, immer wieder davon redeten, sie wollten Alices Beispiel folgen und mit ihrer Ausbildung anfangen; andere, wie Laura, hatten Partner gefunden, die nicht aus Hailsham kamen, und man konnte beinahe vergessen, dass sie je mehr mit uns zu tun gehabt hatten.

Und dazu kam schließlic­h, dass Ruth seit neuestem immer wieder so tat, als hätte sie alles Mögliche von Hailsham vergessen. Gut, meist waren es Banalitäte­n, trotzdem wuchs mein Ärger. Einmal zum Beispiel saßen wir – Ruth, ich und ein paar Veteranen – nach einem ausgedehnt­en Frühstück um den Küchentisc­h, einer der Veteranen hatte uns belehrt, dass der Verzehr von Käse spät am Abend für einen unruhigen Schlaf sorge, und ich drehte mich zu Ruth und sagte sinngemäß: „Weißt du noch, das hat uns auch Miss Geraldine oft gesagt?“Es war nur ein ganz beiläufige­r Einwurf, und Ruth hätte nur zu lächeln oder zu nicken brauchen. Aber sie starrte mich absichtlic­h verständni­slos an, als hätte sie nicht die leiseste Ahnung, wovon ich sprach.

 ??  ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...

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