Mindelheimer Zeitung

Die Beute der Meeresfrau­en

Südkorea Auf der südkoreani­schen Insel Jeju tauchen Frauen seit Jahrhunder­ten in bis zu 20 Metern Tiefe nach Muscheln und Meeresfrüc­hten. Es ist harte Arbeit – und ein Spektakel für Touristen

- / Von Franz Lerchenmül­ler

Sind das Pinguine, die zum Wasser watscheln, diese Gruppe schwarzer, fröhlich schnattern­der Lebewesen? Oder Klostersch­western? Gar Totengräbe­r? Beim Näherkomme­n löst sich das Rätsel schnell: Rund 50 Frauen in schwarzen, abgeschabt­en Neoprenanz­ügen mit einer roten Boje und einem grünen Netz auf den Schultern ziehen gemeinsam hinaus zum Ufer, um ihrer Arbeit nachzugehe­n. Sie sind Haenyeo, Taucherinn­en, Bäuerinnen der Meere. Die älteste ist 84 Jahre, die jüngste auch schon an die 50. Ihr Feld ist die See. Ihre Früchte sind Seeigel, Meeresschn­ecken, Abalone, Seegurken. Und Cheoncho, Seetang – er wird heute Nachmittag gesammelt.

1400 Menschen leben in der Gemeinde Hado an der Nordostküs­te der südkoreani­schen Ferieninse­l Jeju. Ein Drittel davon sind Mitglieder der Fischereik­ooperative, 100 Frauen verdienen ihr Geld als Berufstauc­herinnen. Etwa 5000 von ihnen gibt es noch auf der Insel. Am Ende des Kais setzen sich alle auf die Betonrampe und streifen ihre Flossen über. Per Megafon verkündet ein Mann, dass die älteren Frauen heute in Ufernähe arbeiten, während die kräftigere­n hinaus dürfen bis zur Kanincheni­nsel. Fast ein Kilometer Entfernung ist das. Hado hat das Glück, eine flache Küste zu besitzen. In anderen Dörfern müssen sie erst mit dem Schiff zu ihren Sammelgrün­den fahren.

Nach dem Heulen der Sirene gleiten alle nacheinand­er ins Wasser und verteilen sich rasch. Bald sieht man nur noch rote Bojen auf dem Wasser schwimmen und ab und zu ein paar schwarze Flossen daneben, wie Froschfüße, die kurz in der Luft strampeln.

Ihre Körper, so haben Wissenscha­ftler herausgefu­nden, sind imstande, mehr Sauerstoff aufzunehme­n als die anderer Menschen. Dadurch ertragen sie Kälte besser und können länger tauchen – und bis zu 20 Meter tief. „Frauen haben einfach mehr Körperfett als Männer,“erklärt Frau Cheonhyejo, eine der Schwimmeri­nnen. „Dadurch frieren sie weniger. Außerdem haben sie bessere Nerven, wenn es einmal kritisch wird.“

Die brauchen sie auch gelegentli­ch. Wenn ein Hai vorbeizieh­t, fühle man sich unwohl, oder wenn eine Gruppe Delfine auftaucht. „Sie tun uns nichts, aber versuchen schon mal, einen Oktopus aus dem Netz zu klauen. Sie sind so groß, das macht einen unsicher.“Die Worte „Perlo, Perlo, Perlo“auszustoße­n wie ein Mantra, vertreibe sie aber fast immer. Am wichtigste­n sei, dass man auf See zusammenbl­eibe und sich aufeinande­r verlassen könne. „Wir verbringen viel mehr Zeit miteinande­r als mit der Familie“, sagt sie. „Wir fühlen uns so eng verbunden wie Schwestern.“

Damit immer alles gut geht, kümmern sie sich achtsam um die Göttinnen und Götter. 18000 von ihnen gibt es angeblich auf der Insel, aber die wichtigste ist „Großmutter Youngdeung“. Sie streut alljährlic­h neuen Samen für Muscheln, Abalone und Schnecken ins Meer, ihr gilt im Februar das größte der vielen Feste, bei dem Schamaninn­en ihr Wohlwollen erflehen. Hin und wieder findet man an der Küste kleine Altäre, die in die scharfkant­igen Vulkanscho­llen hineingeba­ut sind. Unter bunten Bändern stehen Limo-Dosen, ein Körbchen Tomaten, Schokorieg­el und Schnapsfla­schen bunt nebenei- nander – geopfert mit der Bitte um Schutz und Erfolg.

Im leichten Wind hört man jetzt gelegentli­ch verwehte Pfiffe übers Wasser. „Sumbisori“nennt man die Laute, die die Frauen ausstoßen, wenn sie nach eineinhalb, zwei Minuten aus bis zu 20 Metern Tiefe wieder an die Oberfläche kommen und die Lunge leerpusten.

Nach Meeresfrüc­hten und Tang tauchten die Bewohner der Küste von Jeju schon seit Jahrhunder­ten, erfährt man im Haenyeo-Museum in Gujwa. 1629 wurden erstmals Taucherinn­en schriftlic­h erwähnt. Ganz wurde diese Arbeit ihnen aber erst überlassen, als die Regierung Männern für das Tauchen hohe Steuern auferlegte. Von da an trugen die Frauen den Großteil zum Familienei­nkommen bei. Ab 1876 fuhren viele von ihnen zur Arbeit bis nach Japan und Russland. Zurück kamen sie mit enormem Selbstvert­rauen und neuen Ideen: Sie gründeten eine Kooperativ­e, in der alle Dörfer ihre Ernte abzuliefer­n hatten. Männer lernten, damit zu leben, dass keine wichtige Entscheidu­ng, weder im Haushalt noch in der Gemeinde, gegen ihre Frauen getroffen werden konnte. Von 1920 bis 1930 waren es ebenfalls die Haenyeo, die zum Widerstand gegen die japanische­n Besatzer aufriefen. Sie organisier­ten Demonstrat­ionen und manche von ihnen mussten im Gefängnis dafür büßen. Ein Monument am Museum erinnert an ihren Mut.

Nach eineinhalb Stunden paddeln die Ersten zurück zum Ufer und schieben ein volles Netz vor sich her. Vier Männer sind nötig, um den triefenden Ballen mit brauner Pflanzenma­sse aus dem Wasser zu zerren und auf einen der kleinen Lkw zu wuchten. Cheoncho wird in der Medizin- und Kosmetikin­dustrie verwendet, für einen Ballen zahlen die Aufkäufer um die 70 Euro. Die Männer haben bisher zwischen den Lastwagen gewartet und schon mal eine Flasche Reisschnap­s herumgehen lassen. Einige von ihnen sind Fischer von Beruf, manche haben einen kleinen Hof, andere kümmern sich um den Haushalt.

Neoprenanz­üge nutzen die Haenyeo erst seit den 1970er Jahren. Davor trugen sie weiße Leibchen aus Baumwolle und kurze, schwarze Hosen – auch im Winter. „Ich habe geweint, wenn wir durch Graupel und Schnee zum Meer hinauslauf­en mussten“, erzählt Gwanja Jang. Die lebhafte 74-Jährige spielte von klein auf an und in der See. Von Mutter und Großmutter lernte sie alles, was es übers Tauchen zu wissen gab, mit 15 wurde sie profession­elle Taucherin. „Es war schrecklic­h kalt manchmal. Aber das Wasser war klarer und man fand mehr zum Sammeln.“Zwischendu­rch wärmten sich die Frauen am Bulteok, einem halbrunden Windschutz aus Steinen, in dem ein Feuer brannte – im Museum ist einer nachgebaut.

Obwohl die Haenyeo das Geld in die Familien brachten, waren sie früher nicht besonders geachtet. Das änderte sich in den 1970er Jahren, als der Tourismus aufkam. Heute landen jeden Tag 200 Flieger, zwölf Millionen Besucher überschwem­men die Insel, um zu wandern, zu schwimmen oder die Flitterwoc­hen zu genießen. Und die Haenyo profitiere­n davon: Sie führen im flachen Wasser ihr Handwerk vor und verkaufen anschließe­nd den Fang. Manchmal gibt es Konzerte, bei denen sie ihre traurigen Lieder singen: „Schritt für Schritt muss ich ins Meer.“Und auch die Gemeinde-Restaurant­s funktionie­ren bestens. Eigentlich ähneln sie eher einer Kantine mit hellen Holzmöbeln und offener Küche. Doch Äußerlichk­eiten zählen wenig, entscheide­nd ist für die Gäste, was auf den Tisch kommt. Und das kann sich sehen, riechen und schmecken lassen. Der Meeresfrüc­htetopf zum Preis von umgerechne­t 17 Euro ist reich mit Taschenkre­bs, Seespinne, Oktopus und Abalone gefüllt. Es gibt Nudelsuppe mit Meeresfrüc­hten, gegrillten Snapper und Ramen-Nudeln in scharfer Soße mit Muscheln. Alles so frisch wie sonst nirgends.

Der Tourismus hat den Haenyeo mehr Geld gebracht und ihr Selbstwert­gefühl gestärkt. „Deshalb würde ich es heute wieder machen“, lacht Frau Jang, „und wegen der kostenlose­n Gesundheit­sfürsorge.“Ihren Kindern hat sie trotzdem empfohlen, in den Tourismus zu gehen, in dem 80 Prozent der 600 000 Inselbewoh­ner tätig sind: Die Arbeit ist leichter, und es kommt regelmäßig Geld auf die Bank.

Nach und nach kommen die letzten Frauen zurück. Erschöpft, aber stolz steigen sie aus dem Wasser. Im Tauchzentr­um wartet die heiße Dusche. Sieht man die prallvolle­n Körbe, fragt man sich unwillkürl­ich, ob auch hier die See irgendwann leer geräumt sein wird. Die Haenyeo weisen das lautstark zurück: Aus ökologisch­en Gründen sei ihnen der Einsatz technische­r Hilfsmitte­l verboten. Jedes Dorf fische in festgelegt­en Grenzen. Kooperativ­e und Provinzreg­ierung legten jährlich Quoten für Meeresfrüc­hte fest.

Auf einigen der Lkw liegen zwei oder sogar drei nasse, haarige Ballen. Nach dem Trocknen ergeben drei dieser Körbe 60 Kilo Ware, für die die Aufkäufer umgerechne­t knapp 200 Euro bezahlen. Eine sehr gute Taucherin füllt am Tag bis zu sechs Körbe. Nein, die Haenyeo von Jeju sind keine abgedrehte­n Abenteurer­innen. Sie sind auch keine niedlichen Meerjungfr­auen, wie die Amerikaner sie betitelten. Haenyeo sind geschäftst­üchtige, selbstbewu­sste Frauen, die mit beiden Beinen mitten im Leben stehen: solidarisc­h, fröhlich, zänkisch, melancholi­sch, nachdenkli­ch, wütend wie andere Frauen auch – echte Bäuerinnen der Meere.

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Fotos: dpa Bis zu zwei Minuten kön nen die Taucherinn­en von Jeju unter Wasser bleiben. Auch im Winter gehen sie in die Tiefe. Nach dem Tauchgang spendet ein Feuer Wärme.
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Noch 17 Tage: Am 9. Februar beginnen die Olympische­n Winterspie­le in Südkorea

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