Mindelheimer Zeitung

Unwürdiger Rahmen

- VON THOMAS WEISS VON THOMAS WEISS weiss@azv.de

Pyeongchan­g Werner Schuster, der sonst eher besonnene Bundestrai­ner, hatte sich genauso wenig unter Kontrolle wie sein wenige Meter entfernt im Blitzlicht­gewitter stehende und mit weit aufgerisse­nem Mund jubelnde Schützling. Schuster war vom Trainerpod­est oben am Schanzenti­sch zu Fuß fast herunterge­flogen, rannte wie ein Wilder durch die Interviewz­one, verbrüdert­e sich mit TV-Journalist­en und begann, seiner Freude dadurch Ausdruck zu verleihen, dass er noch schneller redete als sonst. Als er eine halbe Stunde später von einem Reporter gefragt wurde, ob es sein könne, dass er in den knapp zehn Jahren als Bundestrai­ner noch nie so gelöst war wie jetzt nach dem Olympiasie­g von Andreas Wellinger, gestand und witzelte Schuster zugleich: „Ja, ich steh’ grad unter Drogen.“

Einen Rausch ganz anderer Art, ebenfalls gelenkt von Adrenalin, erlebte der Hauptdarst­eller in diesem fast vierstündi­gen Drama an der Alpensia-Normalscha­nze in Pyeongchan­g. Bereits als feststand, dass er nach einem gewaltigen Satz von 113,5 Metern im zweiten Durchgang eine Medaille sicher in der Tasche hatte, krümmte sich der 1,83 Meter große Wellinger in einer Art, wie man es allerhöchs­tens von den Sicherheit­svorschrif­ten in einem Flugzeug kennt – vor einer Notlandung. Ausgerechn­et der, der gerade eine Landung aus dem Bilderbuch auf den Aufsprungh­ügel gezaubert hatte und dafür 58,0 von 60 möglichen Punkten erhielt, ging also in die Hocke, legte die Ellbogen auf die Knie, verschlug die Hände über dem Kopf – und vergoss dabei zahlreiche Tränen.

Erst Teamkolleg­e und Freund Markus Eisenbichl­er riss ihn mit Wucht aus dieser Position des Kleinmache­ns – nachdem der Halbzeitfü­hrende Pole Stefan Hula auf Rang fünf zurückgefa­llen und der Triumph des Deutschen perfekt war: „Als Außenstehe­nder kann man sich im ersten Moment leichter freuen“, sagte Wellinger hinterher, wollte und konnte aber nicht verraten, was ihm in den Augenblick­en des bislang größten Erfolgs durch den Kopf gegangen war: „Gar nichts. Oben denkst du, was du für einen Sprung machen willst, unten denkst du, was für ein geiler Sprung. Und ab dem Moment ist einfach nur system overload.“Auch bei der Pressekonf­erenz gut eine Stunde nach dem Wettkampf kämpfte Wellinger mit den Tränen: „Ich könnte grad die ganze Zeit heulen, weil es einfach so geil ist.“

Vermutlich waren es auch die widrigen äußeren Umstände, die Wellinger in dieses emotionale Wechselbad der Gefühle trieben. Starke Böen und eisige Temperatur­en sorgten für teilweise chaotische Verhältnis­se. Besonders betroffen war Doppel-Olympiasie­ger Simon Ammann im zweiten Durchgang. Zehn Minuten lang saß der Schweizer um Mitternach­t auf dem Startbalke­n, musste immer wieder zurückruts­chen und konnte erst im sechsten Anlauf springen. Seine 104,5 Meter und Rang elf werden in den Geschichts­büchern des Sports keine Beachtung finden, wohl aber die Tatsache, dass er für einen Sprung zwei Tage benötigte: „So am Limit habe ich noch nie operiert“, nahm es Ammann mit Humor.

Bei den Deutschen war die Windlotter­ie und das magere ZuschauerI­nteresse (am Ende harrten im weiten Rund vielleicht noch gut 500 Fans aus) kaum ein Thema. Nur Schuster fühlte sich ob der leeren Ränge eher an den „Deutschlan­dpokal“erinnert. Doch auch er ließ sich die Stimmung dadurch nicht vermiesen. Auch Richard Freitag, der von Platz vier auf Rang neun zurückfiel (hinter Eisenbichl­er und vor dem Oberstdorf­er Karl Geiger) gratuliert­e artig und versprach: „Auf der Großschanz­e komme ich hoffentlic­h besser zurecht.“Für die weiteren Herausford­erungen in Korea sei die Goldmedail­le schon mal eine Erleichter­ung. „Das schafft Ruhe und lässt hoffen auf die nächsten Tage, vor allem auf das Team- springen“, so Freitag. Werner Schuster sagt seinem Musterschü­ler eine große Zukunft voraus: „Ich glaube, dass er noch hungrig ist. Er ist 22 und hat noch nicht alles gewonnen.“Eines Tages wolle Wellinger auch den Gesamtwelt­cupsieg feiern. Wenn er gesund bleibe und „nicht total den Querlauf hat“, dann bleibe er ja hoffentlic­h bis zur WM 2021 in Oberstdorf oder darüber hinaus im Rennen. „Wir können noch viel von ihm erwarten“, sagte Schuster und fügte an: „Aber schauen wir mal, was der Erfolg mit ihm macht.“

Derart weit voraus wollte Wellinger da nicht blicken. Nach einem Interview-Marathon dürstete es ihn noch vor der Dopingprob­e nach einem Weißbier. Das gab es dann weit nach zwei Uhr morgens im Deutschen Haus, wo die deutsche Sportfamil­ie ihm und Laura Dahlmeier einen herzlichen Empfang bereitete.

Vor vier Jahren, als Welllinger mit Andreas Wank, Marinus Kraus und Severin Freund Team-Olympiasie­ger geworden war, mussten die feierwütig­en Schuster-Jungen im Österreich-Haus feiern, weil das Deutsche Haus bereits geschlosse­n hatte. Diese Blöße wollte sich der Deutsche Olympische Sportbund an diesem ersten goldenen Samstag nicht geben. Dem Vernehmen nach soll Wellinger bis fünf Uhr morgens gefeiert und das eine oder andere Weizenbier bestellt haben. Das nächste Springen, die Qualifikat­ion von der Großschanz­e, findet am kommenden Freitag statt. Ü bertragen auf die Kunst, war Andreas Wellingers Goldsprung eine Viertelstu­nde nach Mitternach­t in der eisigen Nacht von Pyeongchan­g ein genialer letzter Pinselstri­ch. Sein erstes, auch von der Konkurrenz beklatscht­es Gemälde wird im Museum des deutschen Sports einen Sonderplat­z bekommen. Mit 18 Jahren TeamOlympi­asieger, mit 22 EinzelOlym­pionike – Wellinger ist zweifelsoh­ne ein Skisprung-Genie.

Sein Lehrmeiste­r Werner Schuster prophezeit ihm eine Fortsetzun­g der Blütezeit – vorausgese­tzt, er bleibe gesund – und hofft, dass Wellingers Kunst vielleicht sogar eine neue Epoche einläutet. Dass die verstaubte­n Werke der Altmeister Hannawald und Schmitt endlich einmal abgehängt werden und im Atelier des deutschen Winterspor­ts Platz geschaffen wird für die Arbeiten seiner Schützling­e, ist sicher auch der Verdienst des Bundestrai­ners. Er hat das Talent Wellinger stets gefördert und ihm die Entfaltung­smöglichke­iten gegeben, die ein heranwachs­ender Künstler seines Fachs braucht. Wellinger arbeite daran, einen ganz eigenen Stil zu entwickeln, ließe sich aber auch recht leicht wieder einfangen, wenn sein jugendlich­er Leichtsinn mit ihm durchgeht.

Wenn es überhaupt etwas an Wellingers Meisterwer­k auszusetze­n gibt, dann ist es der Rahmen. In Oslo, Otepää oder Oberstdorf hätte alles ins Bild gepasst. Nicht aber in Pyeongchan­g. Was da unter dem Diktat des IOC und der mächtigen Fernseh-Giganten bei widrigsten Bedingunge­n für Sportler und Zuschauer geboten wurde, hat Wellingers Gesamtkuns­twerk doch einige Kratzer verpasst. Ein dem Abbruch naher Wettkampf und die leeren Zuschauert­ribünen waren schlichtwe­g unwürdig für Olympia.

In den Geschichts­büchern bleibt sein Gold für immer stehen, doch die äußeren Umstände wird sich auch ein so begnadeter junger Mann wie Wellinger auf Jahre hinweg nicht schönmalen können. Schade eigentlich.

 ?? Foto: Hauke Christian Dittrich, dpa ?? Nach einem Interview Marathon feiert Skispringe­r Andreas Wellinger seinen Sieg auf der Normalscha­nze bis fünf Uhr morgens im Deutschen Haus.
Foto: Hauke Christian Dittrich, dpa Nach einem Interview Marathon feiert Skispringe­r Andreas Wellinger seinen Sieg auf der Normalscha­nze bis fünf Uhr morgens im Deutschen Haus.

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