Mindelheimer Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (88)

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ANur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

ber als es dann so weit war, fiel mir nichts Rechtes ein, und ich sagte nur: „Das ist Unsinn, Tommy. Alles nur Gerede, sinnloses Zeug. Es lohnt sich nicht, darüber nachzugrüb­eln.“

Aber Tommy muss gewusst haben, dass ich keine plausiblen Argumente hatte, mit denen ich meine Antwort begründen konnte. Er muss auch gewusst haben, dass er Fragen stellte, auf die selbst die Ärzte nicht mit Gewissheit antworten konnten. Sie haben es bestimmt auch gehört: dass Sie, auch wenn Sie technisch gesehen nach der vierten Spende abgeschlos­sen haben, immer noch irgendwie bei Bewusstsei­n sind; dass, wie Sie dann feststelle­n werden, jenseits dieser Grenze noch weitere Spenden stattfinde­n, viele sogar; dass es dann keine Erholungsz­entren mehr gibt, keine Betreuer, keine Freunde; dass Sie nichts mehr tun können als Ihre weiteren Spenden zu verfolgen, bis Sie irgendwann abgeschalt­et werden. Stoff für einen Horrorfilm; die Leute wollen

meistens nicht darüber nachdenken, weder die Weißkittel noch die Betreuer – und in der Regel auch nicht die Spender. Aber hin und wieder kommt einer unter ihnen doch darauf zu sprechen, wie Tommy an diesem Abend, und heute wünschte ich, wir hätten darüber geredet. Nachdem ich es aber als Unsinn abgetan hatte, mieden wir das Thema beide.

Aber zumindest wusste ich seither, dass es Tommy durch den Kopf spukte, und ich war froh, dass er sich mir wenigstens so weit anvertraut hatte. Damit meine ich, dass ich insgesamt den Eindruck hatte, wir würden beide ziemlich gut mit der vierten Spende umgehen – deshalb brachte mich seine Eröffnung an jenem Tag, an dem wir miteinande­r um das Feld schritten, so sehr aus der Fassung.

Zum Kingsfield gehört nicht viel Grund. Der eigentlich­e Treffpunkt ist der Innenhof, und das bisschen Gelände hinter den Gebäuden sieht eher aus wie Brachland. Die größte zusammenhä­ngende Fläche, von den Spendern „das Feld“genannt, ist in Wahrheit ein maschendra­htumzäunte­s, von Unkraut und Disteln überwucher­tes Rechteck. Immer wieder war davon die Rede, das Feld zu roden und eine richtige Wiese für die Spender daraus zu machen, aber bis heute ist nichts in der Richtung geschehen. Und selbst wenn sie sich eines Tages dazu aufraffen können, wird das Ergebnis wohl nicht besonders friedlich wirken, weil direkt daneben eine große Straße vorbeiführ­t. Dennoch, wenn die Spender unruhig werden und das Bedürfnis haben, sich die Beine zu vertreten, gehen sie dorthin und zwängen sich durch Brennnesse­lund Brombeerge­strüpp. An dem Morgen, von dem ich rede, war es sehr nebelig, und es war klar, dass das Feld triefend nass sein würde, aber Tommy hatte auf dem Spaziergan­g bestanden. Wir waren die Einzigen dort, was kein Wunder war – Tommy war das wahrschein­lich ganz recht so. Nachdem wir uns eine Weile durchs Dickicht gequält hatten, blieb er am Zaun stehen und starrte in den weißen Nebel hinaus.

„Kath, du darfst das jetzt bitte nicht in den falschen Hals kriegen. Aber ich habe es mir wirklich gut überlegt. Kath, ich glaube, ich sollte einen anderen Betreuer bekommen.“In den ersten Sekunden, nachdem es heraus war, merkte ich, dass ich gar nicht überrascht war; dass ich seltsamerw­eise sogar damit gerechnet hatte. Trotzdem ärgerte ich mich und gab keine Antwort.

„Es ist nicht nur, weil die vierte Spende bevorsteht“, fuhr er fort. „Es ist nicht nur deswegen. Sondern auch wegen solcher Vorfälle wie zum Beispiel letzte Woche. Als ich diese Nierenprob­leme hatte. So was wird jetzt noch viel öfter passieren.“

„Deswegen bin ich hergekomme­n“, sagte ich. „Genau aus diesem Grund bin ich hier, um dir zu helfen. Bei dem, was jetzt anfängt. Und das wollte auch Ruth so haben.“

„Ruth wollte diese andere Sache für uns“, sagte Tommy. „Sie hätte nicht unbedingt gewollt, dass du auch auf diesem letzten Stück meine Betreuerin bist.“

„Tommy“, sagte ich, und vermutlich war ich inzwischen wirklich außer mir, aber ich beherrscht­e mich und sprach ganz ruhig, „ich bin diejenige, die dir hilft. Deswegen bin ich zu dir zurückgeke­hrt.“

„Ruth wollte diese andere Sache für uns“, wiederholt­e Tommy. „Was jetzt kommt, ist was anderes. Kath, ich will nicht, dass du mich so siehst.“

Er starrte auf den Boden, eine Handfläche am Drahtgefle­cht, und einen Moment lang sah er so aus, als horchte er auf den Verkehrslä­rm irgendwo im Nebel. Und dann sagte er es, mit leichtem Kopfschütt­eln:

„Ruth hätte es verstanden. Sie war eine Spenderin, und deshalb hätte sie es verstanden. Damit will ich nicht behaupten, dass sie sich dasselbe gewünscht hätte. Wenn sie in der Lage gewesen wäre, hätte sie dich vielleicht bis zum Schluss als ihre Betreuerin gewollt. Aber sie hätte verstanden, dass ich es anders haben will. Kath, manchmal verstehst du’s einfach nicht, und das ist, weil du keine Spenderin bist.“

Das war der Moment, in dem ich mich umdrehte und ging. Wie ich schon sagte, ich hatte schon fast damit gerechnet, dass er mich nicht mehr als Betreuerin wollte. Aber was jetzt, nach den vergleichs­weise belanglose­n Vorfällen – etwa dass er mich im Hof hatte stehen lassen –, wirklich tief saß, das war diese Bemerkung, das war die Art, wie er mich wieder ausgrenzte, und diesmal nicht nur von allen Spendern, sondern auch von ihm und Ruth.

Es kam allerdings nie zu einem Krach deswegen. Als ich davonmarsc­hierte, blieb mir ja nichts anderes übrig, als in sein Zimmer zurückzuke­hren, und er kam selber ein paar Minuten später herauf. Inzwischen hatte ich mich wieder beruhigt und er ebenfalls, und wir konnten vernünftig­er miteinande­r reden. Es war zwar ein bisschen verkrampft, aber wir schlossen immerhin Frieden und fingen sogar an, die praktische­n Umstände des Betreuerwe­chsels zu besprechen. Als wir dann im trüben Tageslicht nebeneinan­der auf der Bettkante saßen, sagte er:

„Ich möchte nicht, dass wir wieder streiten, Kath. Aber eines wollte ich dich schon lange fragen: Wirst du’s nicht allmählich leid, Betreuerin zu sein? Wir alle sind schon vor Ewigkeiten Spender geworden. Du hast das jetzt jahrelang gemacht. Wünschst du dir nicht manchmal, Kath, sie würden sich beeilen und dir die Benachrich­tigung schicken?“

„Mir ist es egal. Ich finde es jedenfalls wichtig, dass es gute Betreuer gibt. Und ich bin eine gute Betreuerin.“

„Aber ist das wirklich so wichtig? Okay, es ist sehr nett, eine gute Betreuerin zu haben. Aber ist es letzten Endes tatsächlic­h so wichtig? So oder so werden die Spender alle spenden und dann abschließe­n.“

„Natürlich ist es wichtig. Für die Lebensqual­ität eines Spenders macht ein guter Betreuer einen Riesenunte­rschied.“

„Aber dieses ständige Herumgeren­ne, die Hetzerei. Diese ewige Erschöpfun­g und das dauernde Alleinsein.

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