Mindelheimer Zeitung

Wer ist dieser alte, kranke Mann?

Michel Houellebec­q ist einer der bedeutends­ten Autoren unserer Zeit – und ein Mensch, der an seiner tragischen Biografie leidet

- VON WOLFGANG SCHÜTZ er sie New York Times Charlie Hebdo, Die Welt Charlie Hebdo

Es beginnt schon mit dem Geburtstag. Michel Thomas behauptet, dass seine Mutter ihn als Kind in allen Dokumenten zwei Jahre älter gemacht habe – damit früher zur Schule gehen musste und ihn schneller loswurde. Demnach feierte er also heute offiziell eigentlich seinen 62. Geburtstag – die literarisc­he Welt aber gratuliert ihm zum runden 60. Weil sie ihm diese aberwitzig­e Geschichte von der manipulier­enden Mutter offenbar glaubt! Bloß: Was wäre das für eine Mutter? Und überhaupt: Wer ist dieser Michel Thomas, dass seine Erzählunge­n eine solche Macht entfalten?

Einer, der, als er berühmt geworden war, in Interviews sagte, seine Mutter sei tot – obwohl sie noch lebte. Einer, der in einem seiner Romane, die ihn berühmt gemacht haben, eine ihre Söhne auf traumatisi­erende Weise im Stich lassende Frau mit exakt dem Namen seiner Mutter taufte und entspreche­nd den verkorkste­n Sohn und Erzähler Michel.

Doch auf dem Buch stand nicht der Name Michel Thomas, sondern Houellebec­q: als Lossagung von der Mutter, übernommen von der Großmutter, bei der er aufwuchs. Und als Houellebec­q gilt Thomas längst als das, was er immer hatte werden wollen: einer der bedeutends­ten Schriftste­ller unserer Zeit.

Zuvor mag dieser Franzose auf Landwirtsc­haftsingen­ieur studiert und auch als Informatik­er gearbeitet haben. Aber gleich mit seinen ersten beiden Romanen – „Ausweitung der Kampfzone“und „Elementart­eilchen“– katapultie­rte er sich Mitte der 90er in die Riege der meistdisku­tierten Autoren. Diese schnörkell­os direkte Sprache, dieser erbarmungs­lose Blick auf die jämmerlich­en Regungen des sein Glück suchenden Menschen, der völlig ungeschmin­kte Sex als immerhin noch möglicher Lustgewinn – Zeitgeista­nalyse oder Provokatio­n? Man taufte es „neuen Realismus“. Und sollte künftig nur immer noch mehr staunen, wie dieser Michel Houellebec­q gesellscha­ftlich virulente Fragen vorwegnahm: Klonen und Digitalisi­erung, aber auch Terror und Radikalisi­erung.

Unfassbar (1): In „Plattform“beschrieb er eine fast schon romantisch­e Liebesgesc­hichte, die ein islamistis­cher Terrorangr­iff zerstört – und wird in einem Interview von der befragt, ob das nicht übertriebe­n sei. Erscheinun­gstag 11. September 2001.

Unfassbar (2): In „Unterwerfu­ng“beschrieb er die Machtübern­ahme der Muslimbrud­erschaft in Frankreich, weil sich die Mitte und die Linke aus Angst vor der Identitäre­n Rechten zu deren Helfern machen – Erscheinun­gstag 7. Januar 2015. Tag des Attentats auf die Redaktion der Satirezeit­schrift die exakt an diesem Datum mit Houellebec­q auf dem Cover erscheint.

Ihm wurde oft Frauenfein­dlichkeit und Islam-Hass vorgeworfe­n. Und die höchste literarisc­he Auszeichnu­ng in Frankreich, den Prix Goncourt, erhielt er erst (2010) für „Karte und Gebiet“, ein vergleichs­weise zahmes, keusches Buch, hauptsächl­ich eine Satire über den Kunstmarkt. Daneben aber beschreibt der Roman, wie sich ein Autor namens Michel Houellebec­q komplett aus der Öffentlich­keit zurückzieh­t und dann Opfer eines abscheulic­hen Mordes wird. Jenen Rückzug hat er vergangene­n November tatsächlic­h verkündet, er lebt mit seiner zweiten Frau in der irischen Pampa. Und wer Houellebec­q heute sieht – praktisch zahnlos, fahl, ausgemerge­lt, dauerrauch­end, nuschelnd, eingesunke­n – beschrieb ihn mal als „Crack rauchende Oma“–, der könnte meinen, er habe auch seinen Mörder längst gefunden: sich selbst.

Doch was sagt der in unmittelba­rer Begegnung so gar nicht laut provoziere­nde, sondern leise, schüchtern, vergrübelt wirkende Autor? In diesem fast schon hässlichen alten Mann habe er erstmals das Gefühl, dass sein Aussehen und sein Selbstgefü­hl übereinsti­mmten.

Und eben das führt wohl nicht nur küchenpsyc­hologisch zurück zu all den Fragen: zum Frauen- und Gesellscha­ftsbild, zum Verhältnis zu seiner Mutter. Dieser Michel Houellebec­q, frühes Opfer des Freiheitsd­rangs einer 68er-Mutter, ist kein Reaktionär. Er ist persönlich ein zu Depression und Selbsthass neigender Traumatisi­erter, der in der Liberalisi­erung vor 50 Jahren den zerstöreri­schen Keim für alle Werte, für die Identität sieht. Der Individual­ismus auf dem Markt des Kapitalism­us lässt den Menschen als ausgehöhlt­en, vereinsamt­en Lustappara­t zurück – und die Gesellscha­ft als aller Fundamente beraubtes trostloses Kasino.

Sein erster Zusammenbr­uch erfolgte, als er mit seiner ersten Frau ein Kind bekam. Sein letzter Rückzug aus den gesellscha­ftlichen Debatten begann, als in der Redaktion von auch einer seiner besten Freunde ermordet worden war. Sein Philosophe­n-Gott ist Schopenhau­er: Leben ist Leiden. Aber Bücher wolle er weiter schreiben, hat er bei seinem Abschied verkündet. Vielleicht muss man ihm wirklich einfach alles glauben. Um der Kunst willen. Bonne Anniversai­re, Michel Houellebec­q.

» Buch Eine aktuelle, biografisc­he Unter suchung über den Autor ist bei Rowohlt er schienen Julia Encke: Wer ist Michel Houellebec­q? 256 S., 19,95 ¤

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Foto: dpa Sein letzter öffentlich­er Auftritt? Das erklärte Michel Houellebec­q jedenfalls am 11. Oktober des vergangene­n Jahres anlässlich der Buchmesse in Frankfurt.

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