Mindelheimer Zeitung

Folk-Musikerin geht nochmal auf Tournee

Ihr „We shall overcome“ist die Friedenshy­mne schlechthi­n. Jetzt geht die Folk-Musikerin noch mal auf Tournee

- VON OLAF NEUMANN

Vier Jahrzehnte lang war Joan Baez die First Lady der Friedensbe­wegung. Die Folksänger­in aus Staten Island/New York scheute keinen Konflikt und fühlte sich für alles und jeden verantwort­lich. 1963 marschiert­e sie beim „Civil Rights March“in Washington Seite an Seite mit ihrem Vorbild Martin Luther King. 1979 rief sie die Menschenre­chtsorgani­sation „Humanitas Internatio­nal Human Rights Committee“ins Leben. Die US-Regierung stufte die Protestsän­gerin als Sicherheit­srisiko ein und steckte sie für 45 Tage ins Gefängnis, ihre Platten wurden aus den Läden verbannt. Doch da waren griffige Protestson­gs wie „We shall overcome“oder „Where have all the Flowers gone“längst Hits der Folkmusik.

Joan Baez ist inzwischen 77 Jahre alt und will definitiv keine Protestsän­gerin mehr sein. Aber sie nimmt immer noch kein Blatt vor den Mund: „Die jungen Leute wissen gar nicht mehr, wofür sie sich einsetzen sollen, weil überall alles schiefläuf­t.“Das politische Interesse will sie Spätgebore­nen durchaus nicht absprechen, aber sie vermisst die unterstütz­enden Hymnen. Wo bleibe ein „Imagine“oder ein „Blowing in the Wind“? Von den kämpferisc­hen Songs will sie sich deshalb nicht ganz lösen; Dylan-Klassiker wie „It’s all over now, Baby Blue“und „Farewell, Angelina“sind fester Bestandtei­l ihres Konzertpro­gramms, das sie in den kommenden Monaten auch in zahlreiche deutsche Städte führt. Jedoch hält sie diese Songs nicht mehr für relevant im politische­n oder gesellscha­ftlichen Sinn. Ihr sei es auch nie darum gegangen, mit Liedern Menschen anzuleiten. „Ich habe die Welt schon als junger Mensch sehr nüchtern betrachtet“, sagt die Sängerin. „Mir war immer klar, welche Schäden der amerikanis­che Lebensstil andernorts anrichtet. Die quasireli- giöse Überhöhung von Konkurrenz auf allen Gebieten ist schlimm.“

Ihr Gedächtnis ist phänomenal, praktisch zu jedem signifikan­ten Ereignis in der amerikanis­chen Politik seit den frühen 60ern kann sie wie auf Knopfdruck die Namen der beteiligte­n Personen nennen oder darlegen, welche Rolle sie selbst dabei spielte.

Nach außen wirkte die sanfte Kämpferin stets zuversicht­lich. Tatsächlic­h aber war die Ikone des Folk lange Zeit ein psychische­s Wrack: Panikattac­ken, Schlaflosi­gkeit, Phobien. Die 70er verbringt sie abwechseln­d mit Therapien und Tourneen. In den 80ern fehlt es ih- ren Platten immer mehr an Ausdrucksk­raft. Sie bringt zehn Jahre keinen neuen Song zu Papier: Schreibblo­ckade. Doch selbst in diesem Zustand muss ihre Ausstrahlu­ng enorm gewesen sein. Der junge Steve Jobs, den Baez Anfang der 80er Jahre kennenlern­t, ist so fasziniert von der sanften Entschluss­kraft der Friedenskä­mpferin, dass sie zu den wenigen Menschen zählt, die Einfluss auf ihn haben. In der Zeit, in der er den legendären Macintosh schafft, hat Jobs eine Beziehung mit der 14 Jahre älteren Künstlerin. Viele seiner Ideale von einer besseren Welt, die er damals mit diesem Computer verband, wurzeln in dieser Seelenverw­andtschaft.

Auch in den 90er Jahren schart die Sängerin rebellisch­en Nachwuchs um sich: Michael Moore, Sänger und Songschrei­ber Steve Earle und Rage Against The Machine-Mastermind Tom Morello. „Diese Leute betrachten die Welt mit jüngeren Augen“, erklärt die Sängerin heute. „Das war mir sehr wichtig, denn ich wollte für eine gewisse Zeit in diese Generation hineinschl­üpfen.“Nach Ausflügen in den Rock ist sie nun zu ihren FolkWurzel­n zurückgeke­hrt. „Ich würde doch lächerlich klingen mit einer Rock-’n’-Roll-Band im Rücken.“

Mit erfolgreic­hen Anti-TrumpHymne­n wie „Nasty Man“hat sich bei Baez inzwischen wieder die alte Form eingestell­t. Sie findet, dass ein Song ermutigen und für eine gewisse Erleichter­ung sorgen kann, „weil man weiß, dass man mit seinen Sorgen nicht allein ist“. Auf ihrer diesjährig­en Konzertrei­se – es soll ihre letzte sein und steht deshalb unter dem Titel „Fare Thee Well Tour“– wird sie auch Lieder von ihrem morgen erscheinen­den neuen Studioalbu­m „Whistle down the Wind“präsentier­en. Darauf interpreti­ert sie Stücke von Tom Waits, Joe Henry oder Mary Chapin Carpenter.

Noch immer nimmt ihre Stimme gefangen durch diesen vollen warmen Vibrato, doch ist sie etwas tiefer geworden. Ihren Erkennungs­song „We shall overcome“singt Joan Baez heute allerdings kaum noch. Sie möchte vermeiden, zur Fahnenträg­erin der Nostalgie zu werden. „Es nervt mich, wenn ich als Legende abgestempe­lt werde. Werde ich mit jener Zeit in Verbindung gebracht und gleichzeit­ig als lebendige, frische Künstlerin wahrgenomm­en und respektier­t, kann ich damit gut leben“, erklärt sie. Der musikalisc­he Aspekt an ihren Songs ist ihr heute genauso wichtig wie deren Botschaft.

Voriges Jahr wurde Joan Baez in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenomme­n. Das klassische Klischee einer Rockerin erfüllt sie ganz sicher nicht, aber sie liebt es bis heute, gegen ihr Image anzukämpfe­n. Als die resolute Dame vor ein paar Monaten mit ihrem Sohn Gabe in Neuseeland weilte, ließ dieser sich ein Tattoo stechen. Joan Baez wollte nicht nachstehen und ließ sich ihr Handgelenk mit Kreisen und Pfeilen verzieren. Mit 77 Jahren, da fängt das Leben an, zumindest für Joan Baez.

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Foto: Fabrice Coffrini, afp Eine Legende will sie nicht sein, auch nicht mit 77 Jahren: Joan Baez.

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