Mindelheimer Zeitung

Mörderisch­es Bayern

100 Jahre Freistaat – das sind auch 100 Jahre spektakulä­re Verbrechen. Ein Mann kennt sich da aus wie kaum ein anderer: Karl Häusler, 88, war Kripochef in Ingolstadt, Augsburg und Nürnberg. Und er schreibt bis heute Bücher über Kriminalfä­lle

- VON HOLGER SABINSKY WOLF

Ingolstadt Es ist ja so, dass die Geschichte des Freistaats Bayern mit einem spektakulä­ren Mord begonnen hat. Dem Mord an jenem Mann ausgerechn­et, der ebendiesen Freistaat in der Nacht zum 8. November 1918 ausgerufen hat: Kurt Eisner. Nur 105 Tage ist Bayerns erster Ministerpr­äsident im Amt, dann wird er auf dem Weg zum neuen Landtag erschossen. Der Täter wird rasch gefasst: Es ist Anton Graf von Arco auf Valley, ein Nationalis­t.

Zehn Jahre später kommt in einem kleinen Dorf im Böhmerwald Karl Häusler zur Welt, der Mann, der viel später zu einer Art Kriminalge­dächtnis Bayerns werden soll. Als Einzelkind einer alleinsteh­enden Mutter wächst Karl bei den Großeltern auf. Vormittags besucht er die Oberschule, nachmittag­s ist er draußen in der Natur. Er will gern Förster werden. Es kommt anders.

Im März 1945 muss er kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs als Flakhelfer zu „Hitlers letzter Garde“. Er gerät in amerikanis­che Gefangensc­haft und kehrt nach Kriegsende ins Sudetenlan­d zurück. Doch da ist er nicht mehr willkommen: Erst muss Häusler Zwangsarbe­it leisten, dann wird er mit hunderttau­senden anderen vertrieben. So kommt Karl Häusler nach Bayern, wo er sich erst in der Landwirtsc­haft verdingt, dann in München Wasserrohr­e für 72 Pfennig die Stunde verlegt. Alles nicht das, was man sich unter berufliche­r Perspektiv­e vorstellt.

Als Häusler erfährt, dass München eine Polizeitru­ppe aufstellen will, bewirbt er sich. Er schafft die Prüfung und geht 1951 als einer der Ersten zur Bereitscha­ftspolizei. Es ist der Beginn einer außergewöh­nlichen Laufbahn bei der Polizei, die fast 40 Jahre dauern wird. Häusler fängt als Fußstreife 1955 in Ingolstadt an. Und er beendet seine Karriere 1989 als Kriminaldi­rektor in Nürnberg. Und es dürfte wohl nur ganz wenige Polizeibea­mte in Bayern geben, die in drei Großstädte­n Chef der Kriminalpo­lizei waren. Häusler war es: erst in Ingolstadt, dann in Augsburg und schließlic­h in Nürnberg. Als Häusler anfängt, wird eine echte Polizei gerade erst aufgebaut. Als er aufhört, ziehen die Computer mit Macht in die Ermittlung­sarbeit ein. Als er anfängt, ist ein Fingerabdr­uck alles. Als er aufhört, beginnt der Siegeszug der DNA-Spur. Dazwischen: ungezählte Verbrechen.

Karl Häusler sitzt in seinem Wohnzimmer mit den schweren, dunklen alten Holzmöbeln. Er ist jetzt 88 Jahre alt. „Ich bin ein AEGMann“, sagt er, „Alt, Einsam, Gebrechlic­h.“Nun gut, er ist nicht mehr der Jüngste. Und seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben. „Aber das Hirn funktionie­rt noch“, sagt er und der Schalk blitzt in seinen Augen. Dieser Mann hat nicht nur hunderte Täter überführt, er hat vor über 20 Jahren als Pensionär auch über die spektakulä­rsten Kriminalfä­lle zu schreiben. Fast 20 Bücher sind seither erschienen. Keine Krimis, sondern Berichte über authentisc­he Kriminalfä­lle, von der Tat bis zur Verurteilu­ng.

Es sind längst nicht alles seine Fälle gewesen, aber Karl Häusler ist Kriminaler aus Leidenscha­ft. Die aufsehener­regenden Verbrechen, die die Menschen in Bayern und ganz Deutschlan­d bewegt haben, lassen auch ihn nicht los. „Man kann das alles nicht vergessen“, sagt der Rentner. Den Fall der kleinen Ursula Herrmann vom Ammersee zum Beispiel, die 1981 entführt wurde und in einer Kiste im Waldboden erstickte. Oder die Entführung des Unternehme­rsohns Richard Oetker im Jahr 1976, der ebenfalls in einer Kiste gefangen gehalten wurde und für den sein Vater 21 Millionen Mark Lösegeld zahlte. Die Morde an dem Schauspiel­er Walter Sedlmayr oder dem Modemacher Rudolph Moshammer. Die Schauspiel­erin Ingrid van Bergen, die ihren Mann umbrachte oder die Halbweltda­me Vera Brühne, die zusammen mit einem Bekannten den Münchner Arzt Otto Praun und dessen Geliebte erschossen haben soll, verurteilt wurde und im Aichacher Frauengefä­ngnis einbegonne­n, saß. Oder die beiden Augsburger Polizisten­morde von 1975 und 2011.

Und Bayerns „Urverbrech­en“des 20. Jahrhunder­ts: der Sechsfachm­ord von Hinterkaif­eck, bei dem eine gesamte Bauernfami­lie mit einer Hacke erschlagen wurde. „Hinterkaif­eck gefällt mir nicht“, sagt Häusler. Er ärgert sich über die Vorwürfe an die Polizei, dass der Fall nie geklärt wurde. Für den Ex-Kripochef ist das leicht zu erklären. Es gab 1922 keine echte Polizei, keine echten Ermittler. „Das waren doch alles Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg“, meint er.

Häusler war nie richtiger Soldat. Aber Polizist mit Herz. Als zwei junge Anhalterin­nen 1979 einem brutalen Sexualverb­recher in die Hände fallen und eine davon ermordet wird, ist der damalige Augsburger Kripochef tief getroffen. „Ich hatte zwei Töchter im selben Alter“, erzählt er. Mitte der 80er Jahre wechselt er nach Nürnberg und setzt bei der Jagd nach einem Prostituie­rtenmörder erstmals erfolgreic­h den Computer ein. „Zeugen hatten beim Täter auffällige Punkte an den Fingern gesehen, dieses Merkmal haben wir eingegeben, der PC hat uns drei Männer ausgespuck­t. Einer war der Täter“, erinnert er sich. Bald darauf, 1989, geht er in Ruhestand. Die großen Kriminalfä­lle verfolgt er aber immer noch. Und schreibt darüber. Fünf weitere Bücher liegen fertig in der Schublade, verrät der ewige Ermittler.

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Fotos: dpa, Ulrich Wagner Spektakulä­re Verbrechen aus 100 Jahren Freistaat: In der Mitte der Sechsfachm­ord von Hinterkaif­eck. Links von oben Vera Brühne im Prozess, Richard Oetker nach seiner Entführung, der Modemacher Rudolph Mos hammer, der ermordet wurde. Rechts von oben der...
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Karl Häusler

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