Londons Wasserwege sind ihr Zuhause
Immobilien in der Metropole sind kaum erschwinglich. Immer mehr Bewohner ziehen daher auf Hausboote. 1800 schippern schon über die Kanäle der Stadt. Eine Kapitänin erzählt
London Das Schloss klemmt. Erst nach ein paar Tritten springt es auf. Louise Burke bittet in ihr Zuhause. Die Holzpaneele an den Wänden des kleinen Wohnzimmers mit der angrenzenden Küchennische hat die 32-Jährige weiß gestrichen, sie hat helle Möbel aufgestellt und bunte Kissen auf das Sofa geworfen. Nur: Burke wohnt nicht in einem winzigen, aber teuren Apartment in London, sondern auf einem Hausboot. Der Boden schwankt.
Während sie Tee aufsetzt und der Kaminofen Wärme verbreitet, schreien draußen Gänse und zwei Enten schwimmen vor dem Fenster vorbei. Ihr Boot, gut zwei Meter breit und neun Meter lang, liegt gerade auf einem Kanal in Croxley Green, rund 40 U-Bahn-Minuten vom Zentrum der Neun-MillionenMetropole entfernt. Alle zwei Wochen muss Louise Burke ihren Standort wechseln, so schreibt es das Gesetz für jene vor, die keinen festen Ankerplatz haben. Seit Mai 2017 gehört die gebürtige Australierin zu den umherziehenden Bootsbewohnern der britischen Hauptstadt.
Zwischen 2012 und 2017 stieg die Anzahl von schwimmenden Eigenheimen auf Londons Wasserstraßen um 72 Prozent, heißt es vom Canal and River Trust, der die Zulassungen für die Boote ausstellt. Mit insgesamt 1880 Hausbooten haben sie sich in jenen fünf Jahren verdreifacht. Während noch vor einem Jahrzehnt vor allem Aussteiger und Rentner die alternative Lebensweise wählten, zieht es mittlerweile auch Londons Mittelklasse, Familien und junge Berufstätige aufs Wasser.
Wie Louise Burke sind viele Städter frustriert über die in London ins Unermessliche steigenden Mietund Immobilienpreise. Die Journalistin bezahlte umgerechnet mehr als 800 Euro für ihr WG-Zimmer, wollte endlich in die eigenen vier Wände. Aber sie merkte schnell, dass ihr Erspartes kaum reichen würde. „Es ist deprimierend zu sehen, dass man hier niemals eine Wohnung kaufen kann“, sagt Burke. Durch Zufall entdeckte sie im Internet Angebote von Hausbooten und entschied sich, aufs Wasser zu ziehen, um der Mietfalle zu entfliehen und für ein Eigenheim zu sparen. Zwischen 20 000 und 30000 Pfund gab sie für den Kauf des 30-Quadratmeter-Kahns aus, dazu kamen Renovierungskosten und Second-Hand-Möbel. Mittlerweile zahlt sie neben Versicherung, Diesel, Gas und Feuerholz nur noch 600 Pfund, knapp 700 Euro, pro Jahr für die an den Standorten bereitgestellte Infrastruktur wie Zugang zu Frischwasser oder Abfallentsorgung. Strom erhält sie durch eine Solarbatterie. Sie duscht bei der Arbeit oder im Fitnessstudio, mit der Chemietoilette kommt sie ebenfalls zurecht.
Alle zwei Wochen verbringt Louise Burke rund einen halben Tag mit der Suche nach einem neuen Anlegeplatz, mit Wassertanks füllen, Toilette leeren und Instandhaltungsarbeiten. „Es ist manchmal harte Arbeit“, sagt sie, „aber diese Lebensweise gibt einem auch ein ungemeines Freiheitsgefühl und setzt mich in Verbindung mit der Natur. Es macht mich glücklich.“
Mittlerweile schließt sie eine Rückkehr auf den Immobilienmarkt aus. Sie mag es, viele interessante Leute entlang der mehr als 1000 Kilometer langen Wasserwege zu treffen. Es sei eine Gemeinschaft, die sich unterstütze – was vor allem zu Beginn wichtig war. Bourke erinnert sich an die ersten Monate, als sie permanent die Angst plagte, dass das Boot sinken, sie es versenken oder jemand einbrechen könnte.
Zuletzt hat sie sich zunehmend von der Innenstadt Londons in Richtung Vororte bewegt, demnächst will sie wieder zurück. Ihr Ziel: Little Venice. Es ist einer der teuersten Flecken der Hauptstadt, wo Touristen entlang der Wasserstraßen schlendern und ihre Nachbarn auf Zeit Millionen Pfund für ihre schicken Apartments ausgegeben haben. Dort möchte Louise Burke morgens auf dem Deck ihren Tee trinken, dem Treiben zuschauen und einfach ihre Freiheit genießen – bis sie wieder weiterzieht.