Mindelheimer Zeitung

Neue Armut

Seit die Tafel in Essen an Flüchtling­e keine Lebensmitt­el mehr ausgibt, ist in Deutschlan­d eine Debatte darüber entbrannt, wer bedürftig ist. Auch die Tafeln in der Region haben immer mehr Kunden – eine Folge der Flüchtling­skrise. Doch sie haben Lösungen

- VON GALINA BAUER

Lagerlechf­eld/Schwabmünc­hen Als Doris D.s Mann vor drei Jahren starb, ließ er sie mit drei kleinen Kindern zurück – das Jüngste gerade erst ein Jahr alt. Die Frau aus den Stauden, Anfang 40, kurzes Haar, heißt in Wirklichke­it anders. Und sie hat in den vergangene­n drei Jahren vor allem eins gelernt: Diese „Was wäre wenn“-Gedanken, die ihr immer wieder in den Kopf kommen, lohnen sich nicht. Weder, wenn sie mit einem Buch in der Badewanne liegt, noch in den wenigen Stunden Zeit, die sie pro Woche für sich hat. Das sind dann die Stunden, in denen sie für ihre Familie Essen besorgt. Nicht im Supermarkt, wie die anderen Mütter. Sondern bei der Tafel in Schwabmünc­hen oder Lagerlechf­eld im Landkreis Augsburg.

Ihr Schwager passt dann auf die vier, fünf und sechs Jahre alten Kinder auf. Und selbst hier, in der Warteschla­nge, kreisen die Gedanken im Kopf von Doris D.: „Ich hätte niemals gedacht, irgendwann auf die Tafel angewiesen zu sein.“Dann schüttelt sie den Kopf. Ihr Lächeln kommt zurück und sie sagt: „Das Leben ist trotzdem schön, ich liebe meine Kinder.“Nun hole sie sich eben bei der Tafel das, was ihre Familie zum Überleben braucht: Essen.

Draußen vor der Tafel in Lagerlechf­eld hat es minus zwölf Grad. Es gibt zwar einen Warteraum, doch der kleine Gasofen kapitulier­t vor den eisigen Temperatur­en. Viele warten vor der Tür, Doris D. auch. Sie trägt an diesem Nachmittag eine schwarze Übergangsj­acke und eine lässige Jeans. Sie hat eine hohe Nummer gezogen und kommt erst nach über einer Stunde dran. Dann geht sie durch die Regal-Reihen. Für einen symbolisch­en Betrag von einem Euro – den muss jeder Tafelkunde zahlen – packt sie von allem etwas in die Einkaufsta­sche: Nudeln, Milch, Joghurt, Äpfel, Salat und Brot. Bis auf ein paar welke Salatblätt­er sind die Sachen gut. Die meisten Lebensmitt­el verderben nicht gleich, wenn das Mindesthal­tbarkeitsd­atum erreicht ist. Nur: Supermärkt­e dürfen sie dann nicht mehr verkaufen. Davon profitiere­n die Ärmsten, weil Supermärkt­e, Bäckereien oder Restaurant­s sie dann den Tafeln schenken.

Die Kinder von Doris D. werden sich diesmal besonders freuen, in den zwei riesigen Einkaufstü­ten stecken sogar Überraschu­ngseier. Sie lehnt sich in dem engen Raum der Lechfelder Tafel an die Heizung. Ein paar Minuten Mama-Zeit hat sie noch. Sie reibt sich ihre rot angelaufen­en Hände und schaut nachdenkli­ch den restlichen Kunden zu. Nicht immer ist es in den vergangen zwei Jahren hier so friedlich abgelaufen, erzählt sie. Oft waren da Pöbler und Drängler. Die alleinerzi­ehende Mutter sagt: „Leider drängeln Asylbewerb­er häufig. Sie bringen ihre kleinen Kinder mit, stellen sich direkt vor die Tür, nur um schneller dranzukomm­en.“Und noch eins ärgert sie: Dass sie oft auf und helle Semmeln verzichten müsse. „Die werden für Flüchtling­e zurückgeha­lten, sie essen ja weder Schweinefl­eisch noch helles Brot. Meine Kinder essen auch keine Körnersemm­eln. Was soll ich ihnen vorsetzen?“, fragt sie.

Unter anderem wegen solcher Konflikte hat die Tafel in Essen kürzlich entschiede­n, Lebensmitt­el vorübergeh­end nur noch an Bürger mit deutschem Pass auszugeben. Die Verantwort­lichen sagen, dass der Ausländera­nteil bei der Essener Tafel zuletzt bei 75 Prozent lag. Vor allem junge ausländisc­he Männer sollen sich rücksichts­los verhalten haben. Senioren und alleinerzi­ehende Mütter haben sich beschwert, sich zurückgedr­ängt gefühlt. Das hat zu einer bundesweit­en Debatte geführt, Spitzenpol­itiker aller Parteien haben sich geäußert. Angela Merkel nannte die Entscheidu­ng des Vereins „nicht gut“– und ist dadurch selbst in die Kritik geraten. Das Problem sei schließlic­h hausgemach­t, hieß es – und Tafeln dazu da, die Symptome des krankhafte­n Systems zu lindern. Die Stimmung bei Essener Tafel ist seither angespannt, die Lieferfahr­zeuge des Vereins werden mit Beschimpfu­ngen wie „Nazis“beschmiert.

Ist das ein Essener Problem? Ein Problem der Großstädte? In Schwabmünc­hen und auf dem Lechfeld sind nur ein Drittel aller Bedürftige­n Flüchtling­e, keineswegs die Mehrheit. Auch hat man es hier nicht mit tausenden TafelKunde­n zu tun. Die Leiterin der Ausgabeste­lle Lagerlechf­eld, Judith Aldinger, glaubt, dass eine Strategie wichtig sei, um einen geordneten Ablauf sicherzust­ellen. Zu der Tafel in Lagerlechf­eld kommen keine Großfamili­en aus Asylbewerb­erheimen und drängeln vor. Denn: „Wir haben festgelegt, dass pro Familie nur ein Asylbewerb­er zur Tafel darf und für den Rest einkaufen soll.“Das funktionie­re gut, sagt die 54-Jährige. In Schwabmünc­hen gebe es diese Regelung nicht. Das deckt sich mit den Erzählunge­n von Doris D.: „In Schwabmünc­hen drängeln Asylbewerb­er. In Lagerlechf­eld nicht.“

Die Einrichtun­g in SchwabmünF­isch chen wurde als erste Tafel im Landkreis Augsburg vor 17 Jahren gegründet. 2009 kam die Außenstell­e auf dem Lechfeld hinzu. Grundsätzl­ich arbeiten die beiden Läden nach dem gleichen System: Kunden ziehen eine Nummer und werden nacheinand­er aufgerufen. Familien mit Kleinkinde­rn bis zwei Jahren – das gilt sowohl für deutsche als auch für ausländisc­he Familien – werden vorgelasse­n. Behinderte auch. Für Peter Wyss, den Leiter in Schwabmünc­hen, ist es anders „nicht zumutbar“. Daran hat weder der Flüchtling­sstrom etwas geändert, sagt er, noch die Diskussion über die Tafel in Essen. Und Helfer seien auch nicht abgesprung­en, sie stemmen weiterhin bei Minusgrade­n Lebensmitt­elkisten für Bedürftige.

Als 1993 die erste Tafel in Berlin öffnete, waren die Kunden hauptsächl­ich Obdachlose. Heute ist auch dort die Stammkunds­chaft gemischt. Die Tafeln in Schwabmünc­hen und auf dem Lechfeld versorgen derzeit 294 Bürger: Arbeitslos­e mit ihren Kindern, Flüchtling­e und Rentner. Wer berechtigt ist, entder scheidet jede Tafel für sich. Die meisten allerdings orientiere­n sich an den Hartz-IV-Sätzen.

Ein paar Beispiele: Da ist die 67-jährige Frau aus Untermeiti­ngen, vier Kinder, neun Enkel, zwei Urenkel. Nach Abzug von Miete, Wasser- und Stromkoste­n bleiben ihr 240 Euro zum Leben. Für den Friseurbes­uch der Mutter legen ihre Kinder zusammen. Sie schämt sich schon lange nicht mehr, sagt sie, dass sie bei der Tafel einkaufen muss. Auch der 35-jährige Mann, der an multipler Sklerose erkrankt ist und zwei Kinder zu versorgen hat, sagt, dass sein Schamgefüh­l erträglich geworden sei. Denn die Frührente von 640 Euro und das niedrige Gehalt seiner Frau reichen einfach nicht aus. Viele Tafelkunde­n kaufen seit der Gründung dort ein. Wie die Rentnerin, die 2001 mit ihrem behinderte­n Sohn noch zu Fuß kam und heute mit dem Rollator kommt.

Sie alle machen sich Sorgen wegen der Diskussion­en um die Essener Tafel. Und um die Armut, die wieder steigt in Deutschlan­d. Bis 2005 stagnierte die Armutsquot­e, neuerdings klettert sie wieder nach oben – auch durch den Flüchtling­szustrom. Denn immer mehr Asylverfah­ren sind abgeschlos­sen, immer mehr Flüchtling­e anerkannt. Sie bilden eine neue Schicht Armer, 14 Prozent der Hartz-IV-Empfänger sind laut aktuellen Zahlen Flüchtling­e.

Dass sie aus der Lechfelder Tafel ausgeschlo­ssen werden, so weit werde es niemals kommen, sagt Judith Aldinger. Als sie vor neun Jahren die Leitung dort übernahm, war sie schockiert. Wegen der versteckte­n Armut vor ihrer eigenen Haustür, vor allem bei den älteren Bürgern. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Im Gegenteil: In Lagerlechf­eld sind in den letzten Jahren immer mehr Senioren auf die Tafel angewiesen, sagt sie.

Genau für diese Menschen fahren Judith Aldinger und ihr Team mit dem Kühlwagen die Supermärkt­e ab. Erste Station: der Rewe in Untermeiti­ngen. Aldinger ist zufrieden, es gibt im Moment genügend Lebensmitt­el für die 35 Haushalte, die sie versorgen müssen.

Vor jedem Supermarkt wartet eine Überraschu­ng. Diesmal sind es Steigen voller Pilze und bündelweis­e Tulpen. Tulpen? „Manchmal bekommen wir auch Blumen, unsere Kunden freuen sich“, sagt Aldinger. Während die Supermarkt-Mitarbeite­r Kisten mit Obst, Gemüse und Überraschu­ngseiern herausbrin­gen, erzählt Aldinger, dass das nicht immer so war. Vor vier Jahren wurde

Jeder Einkauf kostet einen symbolisch­en Euro

Manchmal gibt es bei der Tafel auch Tulpen

es eng, die gespendete­n Waren reichten nicht mehr aus, die Rationen für die einzelnen Familien mussten gekürzt werden. Weshalb die Supermärkt­e weniger Lebensmitt­el zur Verfügung stellten? Darüber rätselt sie bis heute.

Denn: Was und wie viel die Armen bekommen, hängt davon ab, ob Lebensmitt­el übrig bleiben. Gerade vor Feiertagen wird der Nachschub oft knapp, erzählt Aldinger. Immer dann, wenn der Durchschni­tts-Supermarkt­kunde besonders viel einkauft, bleibt für die Tafeln wenig – zu Zeiten also, an denen das Geld sowieso knapp ist und die Bedürftige­n deshalb besonders auf das Essen von der Tafel angewiesen sind. Solche Zeiten überbrücke­n Aldingers Helfer, in dem sie Supermärkt­e um zusätzlich­e Spenden bitten.

Während der Flüchtling­skrise war auch so eine Phase. „Wir sind überrannt worden“, sagt der Schwabmünc­hner Tafelleite­r Peter Wyss. Fast über Nacht mussten 60 Leute mehr versorgt werden. „Die Befürchtun­g vieler Stammkunde­n, Arme könnten anderen Armen etwas wegnehmen, war groß“, sagt der Rentner. Das sei jetzt besser.

Denn es wird auf jeden Rücksicht genommen. Egal, ob Deutscher oder Flüchtling, ob er Vegetarier ist, keine Wurstpacku­ngen möchte, auf denen Tiere zu sehen sind, nur Fisch isst – oder eben keine Körnersemm­eln mag. Wenn das helle Brot dann aus ist, fährt Doris D. eben weiter zum nächsten Supermarkt – und kauft ein paar Semmeln für ihre Kinder.

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Fotos: Marcus Merk Je nachdem, ob jemand alleinsteh­end ist oder für eine Familie einkauft, fällt der Ein kauf größer oder kleiner aus.
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Wie in einem richtigen Supermarkt gehen Bedürftige von Regal zu Regal und suchen sich Ware aus. Pro Einkauf zahlen sie einen Euro.
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Auch bei eisigen Temperatur­en stehen Bedürftige zwei Mal in der Woche bei der Tafel in Schwabmünc­hen an, um dort Lebensmitt­el einzukaufe­n.
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Jeder Tafelkunde muss eine Nummer ziehen. Vordrängel­n kann sich niemand – nur Eltern mit Kleinkinde­rn und Behinderte werden in Schwabmünc­hen vorgelasse­n.
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Fotos: Bauer Bis zu 20 Kilo wiegt eine Lebensmitt­el kiste. Darum ist Judith Aldinger um je den männlichen Helfer froh.
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Wenn ihre Rückenschm­erzen nicht wä ren, würde die Rentnerin Katharina Hackl (rechts) öfter aushelfen.

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