Mindelheimer Zeitung

Jahrzehnte der Scham

Ein Forscher erklärt, warum es wichtig ist, dass sich Opfer an die Öffentlich­keit wenden – und wenn es Jahrzehnte nach der Tat ist

- Woran liegt das? Interview: Michael Böhm

In Donauwörth wird derzeit über Misshandlu­ngen in einem Kinderheim vor 40 Jahren diskutiert. Im nicht weit entfernten Nördlingen kamen vor wenigen Monaten Missbrauch­svorwürfe gegen den ehemaligen Stadtpfarr­er auf. Er hat daraufhin zugegeben, in den 80er Jahren im Mindelheim­er Maristenko­lleg einen Jungen sexuell missbrauch­t zu haben. Warum kommen derartige Fälle oft erst Jahrzehnte später an das Licht der Öffentlich­keit? Prof. Harald Dreßing: Forschunge­n in der Viktimolog­ie zeigen, dass es gerade bei Betroffene­n sexuellen Missbrauch­s oft extrem lange Latenzen gibt, bis sie sich jemandem offenbaren. Da liegen nicht selten Jahrzehnte zwischen der Tat und dem Moment, in dem ein Betroffene­r darüber spricht.

Dreßing: Das ist je nach Fall sehr unterschie­dlich gelagert. Viele Betroffene schämen sich für das, was ihnen angetan wurde. Andere haben Angst, dass ihnen niemand glaubt. Wiederum andere tragen ein Schuldgefü­hl mit sich herum. Sie fragen sich, was sie falsch gemacht haben – auch wenn solche persönlich­en Schuldzusc­hreibungen natürlich unzutreffe­nd sind.

Nun wenden sich manche Opfer an Vertrauens­personen, Familienmi­tglieder, Therapeute­n. Andere suchen den Weg an die Öffentlich­keit. Was erhoffen sich Missbrauch­sopfer von einer medialen Aufmerksam­keit?

Dreßing: Ich glaube, die wenigsten erhoffen sich persönlich irgendetwa­s davon, das sind keine Wichtigtue­r. Sie machen das eher aus Solidaritä­t, um anderen Opfern zu zeigen: Du bist nicht allein, gemeinsam kann man uns nicht überhören. Auch deswegen kommen Missbrauch­sfälle oftmals schubweise an die Öffentlich­keit – viele Opfer fühlen sich von anderen ermutigt. Und vielleicht tragen sie auch dazu bei, dass solche Dinge nicht mehr passieren. Daher ist es wichtig, auch Jahrzehnte nach den Taten darüber öffentlich zu berichten. Es gibt immer noch eine sehr große Dunkelziff­er. Sie leiten das Forschungs­projekt zur Aufklärung sexuellen Missbrauch­s an Minderjähr­igen durch Mitglieder der katholisch­en Kirche in Deutschlan­d. Dieses wurde vor geraumer Zeit bis September 2018 verlängert. Welche Erkenntnis­se sind von Ihrer Arbeit zu erwarten?

Dreßing: Wir werden im Herbst unter anderem Schätzzahl­en zur Häufigkeit des sexuellen Missbrauch­s an Minderjähr­igen durch katholisch­e Priester im Zeitraum von 1946 bis 2014 berichten, basierend auf der Auswertung einer großen Zahl von Personal- und Strafrecht­sakten. Wir werden über Art und Folgen der Missbrauch­staten informiere­n und darüber, ob und gegebenenf­alls welche Spezifika des Missbrauch­s es im Kontext der katholisch­en Kirche gibt.

Prof. Harald Dreßing lei tet den Bereich Forensi sche Psychiatri­e am Zen tralinstit­ut für Seelische Gesundheit in Mannheim.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany