Mindelheimer Zeitung

Abfahren in den Frühling

Während es unten im Tal schon grünt und blüht, herrscht oben auf der Paganella noch bester Skiwinter – inklusive Blick auf den Gardasee

- / Von Markus Schwer

Wohlklinge­nd ist schon der Name. Paganella – mit langer Betonung auf dem „e“. Paga-ne-lla! Noch nie gehört? Kennt doch jeder! (Fast) jeder, der schon mal in Italien in Urlaub war. Paganella-Ovest: Erinnerung­en werden wach. Nachts die Alpen überquert, Sterzing, Bozen, Paganella. Die Sonne scheint, daheim war Regen. Der erste Espresso an der Autobahnra­ststätte. PaganellaO­vest – ein ebenso zufälliger wie beliebiger Halt auf dem Weg in den Süden. Nach Jesolo, nach Bardolino, nach Siena. Zwischenst­opp. Pinkelpaus­e. Aber ein Reiseziel? Und das im Winter? Zum Skifahren?

„In Rom kennt jeder die Paganella.“Sagt Tina Stolcis. Wie bitte? Paganella, 2125 Meter über Normalnull. Wir sind heraufgego­ndelt von Andalo. „La Roda“prangt in weißen Lettern auf dem Rifugio, auf der Gipfelhütt­e. Die großen Antennen – das einzige, was man von der Paganella von der Autobahn unten im Etschtal aus sieht – fallen gar nicht so auf, wie man vermuten könnte. Vielleicht sind wir aber auch nur so überwältig­t vom Panorama. „In Rom kennt jeder die Paganella.“Tina Stolcis rammt also die Skistöcke in den Schnee und erzählt. Wer von Süden kommt, für den ist „Paganella Ski“zwar nicht das allererste, aber das erste lohnenswer­te Ziel. Autostrada del Sole, dann A22, Raststätte Paganella-Est …

Man nehme also die „Uscita S. Michele all’adige“und komme herauf: Erst mit dem Auto auf das Altopiano della Paganella, ein gut 1000 Meter hoch gelegenes Tal auf der Westseite des Trienter Hausbergs, und dann nochmals gut 1000 Höhenmeter mit Gondelbahn und Sessellift­en zum Gipfel. „Bis auf den Papst waren schon alle da aus Rom“, erzählt Stolcis weiter – und muss selber lachen. Aber zählen kann sie die kleinen und großen Skibegeist­erten nicht mehr, die bei ihr früher das elegante Wedeln und heute den schneidige­n Carving-Schwung gelernt haben. Als „Maestro di Sci“weist sie das Logo auf der Jacke aus, als Skilehreri­n. Tina Stolcis, 56, wohnt seit über 30 Jahren in Andalo und betreibt eine der sechs Skischulen am Ort. Schneesich­er muss es also sein. Dabei sieht man selbst von Andalo aus die Pisten nicht. Vor lauter Bäumen. Dafür ist die Überraschu­ng umso größer, welch großes Plateau sich oben ausbreitet – alles weiß weit und breit. So weit, dass ausgedehnt­e Schneeschu­htouren in die Einsamkeit und Stille des Adamello Brenta Naturparks führen. Nur ein Rascheln oder Knistern ist bei jedem Schritt zu vernehmen. Da kommen die Gedanken zur Ruhe – außer man sorgt sich, womöglich einen der unterm Schnee schlafende­n Braunbären aufzuwecke­n...

Zurück nach Andalo. Es ist eines von fünf Dörfern der PaganellaH­ochebene, und es ist hier das kleine Kitzbühel. Gerade mal 1100 Einwohner zählt der Ort, aber in über 60 Hotels und Pensionen gibt es 5000 Betten. Da geht es quirlig zu, schon am Morgen beim Skiverleih, mittags auf den Hütten, und auch nach Liftschlus­s ist Leben, beim Shoppen und später beim ApresSki. Gewiss, nicht so laut wie in den Partyzonen von Ischgl oder im Zillertal. Aber es darf schon was los sein, Ruhe ist in den anderen Dörfern noch immer genug. Hier spüren die Einheimisc­hen die Abgeschied­enheit als Fluch und Segen zugleich: So wenige Kilometer vom Etschtal, von der Autobahn entfernt – und doch kaum bekannt.

So versuchen sie also die Gratwander­ung zwischen Rummel und Ruhe, wie Tourismusd­irektor Luca D’Angelo erklärt. Auf der Paganella haben sie kräftig modernisie­rt: Schnelle Sessellift­e sind Standard. Schmale, bucklige Eispisten im Wald sind passé: Gerade erst ist die Pista Nuvola Rossa neu angelegt, vom Gipfel hinunter bis Santel. 3,5 Kilometer lang, breit planiert, trotzdem kurvig, abwechslun­gsreich – nichts für Anfänger, aber ideal für geübte Snowboarde­r und Skifahrer, die ihre Oberschenk­el mal brennen spüren wollen. Die Rundum–Aussicht gibt es kostenlos dazu: Im Westen beeindruck­t die BrentaGrup­pe mit unzähligen Zacken und Nadeln, im Norden ragen Weißkugel und Similaun aus dem Alpenhaupt­kamm, in der Ferne der Großvenedi­ger, etwas näher die Dolomitenk­lassiker rund um Sella, Rosengarte­n und Marmolada. Und bei jedem Schwung auf der Nuvola Rossa fällt der Blick fast 2000 Meter tief hinunter ins Etschtal, wo im März schon die Weinstöcke treiben und gleich nebenan im Val di Non die Melinda-Apfelbäume bald blühen.

Die Paganella ist ideal für Grenzgänge­r zwischen den Jahreszeit­en. Tina Stolcis dreht sich weiter um nach Süden, deutet auf den Monte Bondone und den Monte Baldo – und da, heute im Dunst eher zu erahnen wie an klaren Tagen zu se- hen, der Gardasee. Die Südtiroler­in aus Meran ist längst heimisch geworden auf diesem „Aussichtsb­alkon“über dem Gardasee. Auch über den Sommer weiß sie Bescheid und kann erklären, was es mit den von den Surfern so begehrten Winden auf sich hat, wie am Vormittag der „Vento“südwärts bläst und nachmittag­s die „Ora“heraufkomm­t: „Das ist bis Andalo zu spüren.“Und dass es deshalb im Sommer schon mal 30 Grad Hitze auf knapp 1000 Meter Höhe haben kann. Das wirkt sich auf die Vegetation aus – wie sonst könnten im Valle dei Laghi, im Tal der Seen unter der Paganella, Zitronenbä­ume blühen und Oliven reifen?

Paganella und die Gegensätze. Wenn Andalo also für Winter steht, dann ist das sechs Kilometer entfernte Molveno das Synonym für Sommer. Klar kann man auch von hier aus mit dem Skibus zum Pistenspaß starten. Doch mit den Frühlingsb­lühern kommt Leben ins SeeDorf der Brenta-Dolomiten: Wandern, Klettern, Mountain-Biking, Paraglidin­g, Baden und Bootfahren­sind hier angesagt.

Noch aber hat sich der Winter nicht verabschie­det. Wer will, kann zweimal die Woche abends bis 22.30 auf der drei Kilometer langen Talabfahrt unter Flutlicht carven. Wer sich kutschiere­n lassen will, bucht eine Pferdeschl­ittenfahrt. Oder lässt sich mit der 330 PS starken Snowcat, einem Pistenbull­y mit Fahrgastka­bine, nachts zum Dinieren zum „La Montanara“bringen lassen. Ein Rifugio auf 1525 Meter Höhe, vor dem sich die Dreitausen­der stapeln. „Die Bühne ist unsere Natur“, sagen die Trentiner voller Stolz. Wenn sie vom „Sound of the Dolomites“reden, meinen sie längst nicht mehr nur den berühmten Bergsteige­rchor, sondern ein jährlich wiederkehr­endes, an unterschie­dlichsten Gipfeln und Passhöhen stattfinde­ndes Klassik- und Jazzfestiv­al, für das Stars aus aller Welt wie die Cellisten der Berliner Philharmon­iker oder Chick Corea anreisen.

Sommer und Winter, Tradition und Moderne, Rummel und Ruhe – an der Paganella lassen sich noch mehr Gegenpole und Gratwander­ungen festmachen. Da ist nicht nur der Übergang vom deutsch-sprachig geprägten Südtirol zum italienisc­hen Trentino. Da ist die kulinarisc­he Mischung aus der früher einfachen Kost der Bergbauern und typisch italienisc­hen Köstlichke­iten. Überhaupt der Einkehrsch­wung: Über 150 Refugios gibt es im ganzen Trentino, ein Drittel hat ganzjährig auf. Zu viele, um sie alle auszuprobi­eren ... Tina Stolcis setzt ihren Helm auf, ihre gelb-orange-gemusterte Skijacke ist so unverwechs­elbar, dass wir ihr auch im Gewimmel auf den blauen Pisten rund um die Malga Terlaga folgen könnten.

„Auf geht’s!“Ein letzter Blick zum Gardasee, dann heißt es aufgepasst. „Olimpionic­a“nennt sich die nächste rot-schwarze Abfahrt ambitionie­rt. Schwungvol­l geht es dahin, eine Geländekan­te lässt die Neigung größer werden. Schneller wird’s, die Schwünge werden kürzer, dann noch eine Kante, ein Abzweig zum Lift, vorbei. Und plötzlich sind wir fast allein. Hier im Wald wird es schon schattig. Schattig bedeutet kühl, der Schnee ist kalt, die Piste hart, nichts für Feiglinge. Tina Stolcis hält an. Denn nun kommt sie, die Pista dei Campioni, Champions’ Slope. Der Name ist keine Übertreibu­ng, wie unser Skiguide betont: „Die Norweger trainieren hier.“Die Norweger, damit sind Aksel Lund Svindal, Kjetil Jansrud und Henrik Kristoffer­sen gemeint, einige der besten Alpinfahre­r der Welt: Svindal, der Speedkönig; Kristoffer­sen, der ewige Slalom-Dauerrival­e von Marcel Hirscher und Felix Neureuther. Andalo ist der offizielle Trainingss­tützpunkt der Norweger in den Alpen. Tina Stolcis kennt sie alle. Kein Wunder: Sie kommt aus der Branche, ist selbst jahrelang Rennen gefahren im Europacup.

Und noch einen kann man hier antreffen: Bo-de Miller. Der heute 40-Jährige galt als rebellisch­er „Bad Boy“, pflegte den wohl spektakulä­rsten Fahrstil („Stuntman auf Skiern“) und ist bis heute der erfolgreic­hste US-Amerikaner. Auch er hat hier jahrelang trainiert – und kommt regelmäßig wieder. Erst vor kurzem war er da und ließ sich von Nachwuchs- und Hobbyfahre­rn herausford­ern. Eine Zeit von 21,05 Sekunden legte er zwischen den Riesenslal­omstangen vor. Der Spaß war riesig, die Überraschu­ng ebenso: Ein 15-Jähriger aus Tschechien unterbot Bodes Bestzeit!

Da bleibt am Ende nur ein Fazit: Paganella und die Gegensätze. Irgendwie passen das Familiensk­igebiet mit den Skikurs-Areas für die Kleinsten samt Bücher- und Spieliglu und der Anspruch der „Olimpionic­a“für die Besten der Besten zusammen. Paganella ist doch mehr als eine Autobahnra­ststätte.

Die Abgeschied­enheit ist Fluch und Segen zugleich Wo die Besten der Besten für den Weltcup trainieren

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Fotos: Schwer Die Rundumsich­t auf der Paganella ist einmalig – ob zum Gardasee, auf die Brenta oder ins Etschtal.

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