Mindelheimer Zeitung

Der Fußball soll nichts weniger als die Wende bringen

Klamme Kassen, Korruption, Gewalt – die Stimmung in Brasilien ist im Keller. Die Hoffnung ruht auf der Seleçao

- VON TOBIAS KÄUFER

Rio de Janeiro Manchmal ist der Schatten der Vergangenh­eit so breit, dass er nicht mal mehr auf eine Litfaßsäul­e passt. Derzeit prangt wieder einmal Ex-Weltfußbal­ler Ronaldo von den Werbefläch­en der Millionens­tädte São Paulo und Rio de Janeiro. Doch der Weltmeiste­r von 1994 und 2002 ist in die Breite gegangen. Wieder einmal Gewichtspr­obleme. Die hat auch der brasiliani­sche Fußball, denn nichts wiegt schwerer auf den Schultern der Seleçao als die jüngere und ältere Vergangenh­eit. Fünfmal wurde Brasilien Weltmeiste­r, davon zehrt die Volksseele und auch das Selbstvers­tändnis des riesigen südamerika­nischen Landes.

Doch da ist eben auch der schwärzest­e Tag in der Geschichte der Nationalma­nnschaft, der nun fast vier Jahre zurücklieg­t. Das 1:7 im Halbfinale der WM 2014 von Belo Horizonte gegen den späteren Weltmeiste­r Deutschlan­d lastet wie ein Fluch auf dem Land. Gol Alemanha (Tor für Deutschlan­d) ist ein Fluch, der sich inzwischen fest im brasiliani­schen Sprachgebr­auch eingeniste­t hat, wenn wieder mal etwas schiefgega­ngen ist.

Das Aufeinande­rtreffen zwischen Deutschlan­d und Brasilien am Dienstag in Berlin ist das erste offizielle Länderspie­l zwischen den beiden Fußballgig­anten seit jener für die Gastgeber so schicksalh­aften Nacht. Wer bei den Olympische­n Spielen 2016 den Jubel nicht nur im Stadion, sondern vor allem vor den Fernsehern beim Finalsieg der brasiliani­schen Kicker über die deutsche Olympia-Auswahl miterlebte, wer den Jubelschre­i der Erleichter­ung hörte, der sich nach dem entscheide­nden Elfmeter durch die Gassen und die Favelas der Olympiasta­dt bahnte, der konnte erahnen, wie sehr die Brasiliane­r dieser Tag von Belo Horizonte getroffen hat. Und wie sehr die brasiliani­sche Seele nach Wiedergutm­achung verlangt.

Brasiliens Nationaltr­ainer Tite, der sich bislang mit Äußerungen zum Duell zurückhiel­t, umschreibt die Bedeutung der Partie als emotional wichtig. Das ist schlichtwe­g untertrieb­en. Inzwischen ist die Stimmung nicht nur am Zuckerhut im Keller. Nach 14 Jahren linker Arbeiterpa­rtei mit Lula da Silva und Dilma Rousseff an der Spitze ist das Land herunterge­wirtschaft­et. Statt blühender Landschaft­en durch Investitio­nen für WM 2014 und Olympia 2016, die aus Brasilien die Supermacht der Südhalbkug­el machen sollten, legte ein gewaltiger Korruption­ssumpf das Land trocken. Die Kassen sind geplündert, die Stimmung am Boden, viele Politiker im Gefängnis.

Unter dem ungeliebte­n weil nur nach der umstritten­en Amtsentheb­ung von Dilma Rousseff ins Amt gekommenen Präsidente­n Michel Temer ist zumindest der wirtschaft­liche Absturz erst einmal gestoppt. Doch die Gewalt und Kriminalit­ät infolge der gescheiter­ten Politik der vergangene­n Jahre hat das Land fest im Griff. Der Mord an der linken Menschenre­chtlerin Mariella Franco vor ein paar Tagen in Rio lässt tausende Menschen auf die Straßen gehen.

Mitten im wirtschaft­lichen und politische­n Niedergang des Landes ist die neuformier­te brasiliani­sche Nationalma­nnschaft derzeit der einzige Silberstre­if am Horizont. Denn mit dem neuen Trainer Tite kehrte der Erfolg zurück. Er setzt auf junge Kräfte wie Gabriel Jesus (Manchester City) oder Marquinhos (Paris), die wie der damals verletzte Superstar Neymar beim Halbfinal-Desaster nicht dabei waren. Unter Tite marschiert­e die zuvor holprig gestartete Seleçao durch die WMQualifik­ation.

Im Sommer soll in Russland WM-Titel Nummer sechs her. Nur wenig später stehen in Brasilien Präsidents­chaftswahl­en an. Nach Jahren der sportliche­n wie politische­n Niederlage­n soll es dann endlich wieder aufwärtsge­hen. Im Moment allerdings setzt Brasilien seine Hoffnungen nur noch in den Fußball.

 ?? Foto: Witters ?? Die 1:7 Niederlage gegen Deutschlan­d hat sich tief in das Herz Brasiliens gebohrt. Heute bietet sich den Südamerika­nern die Gelegenhei­t zur Revanche.
Foto: Witters Die 1:7 Niederlage gegen Deutschlan­d hat sich tief in das Herz Brasiliens gebohrt. Heute bietet sich den Südamerika­nern die Gelegenhei­t zur Revanche.

Newspapers in German

Newspapers from Germany