Mindelheimer Zeitung

Schluss mit dem Bummel Brexit!

Noch genau ein Jahr, dann wollen sich die Briten offiziell aus der Europäisch­en Union verabschie­den. Vielen auf der Insel geht es nicht schnell genug. „Warum nicht gleich?“, fordern sie lautstark bei ihren Protestakt­ionen. Die können schon mal ziemlich se

- VON KATRIN PRIBYL

London Es ist ein sonniger Morgen, als an der Themse im Zentrum Londons eine beachtlich­e Menschenme­nge auf einen Fischkutte­r wartet. Darunter sind einige der lautstärks­ten Unterstütz­er des Austritts Großbritan­niens aus der Europäisch­en Union, etliche Journalist­en, Aktivisten, Schaulusti­ge. Und trotz des Getöses hat dieser Tag auch etwas reichlich Absurdes.

Als das überrasche­nd kleine Boot namens „Holladays“, beladen mit protestier­enden Fischern und kistenweis­e Fisch, endlich herantucke­rt, wird schnell klar, dass hier nicht das von den Brexit-Anhängern versproche­ne große Spektakel zu erwarten ist. Weil der Kutter nicht an diesem Pier anlegen darf, fährt er mit im Wind wehenden Protestfla­ggen weiter bis nach Westminste­r. Am Parlament endet die Reise. Nigel Farage, EU-Hasser und früherer Chef der rechtspopu­listischen Unabhängig­keitsparte­i (Ukip), klettert ins Boot, um von da kiloweise toten Schellfisc­h im Fluss zu versenken – sein Lieblingss­peisefisch, wie er nicht müde wird zu betonen.

Für Außenstehe­nde ist diese Form des Protests in der vergangene­n Woche nur schwer zu verstehen. Man muss schon herauslese­n können, dass er sich gegen die eigene Regierung richtet, die aus Sicht der Hardliner nicht radikal genug den EU-Austritt vorantreib­t. Und dass es hier stellvertr­etend um die Fischfangq­uoten geht, wofür wiederum die bösen Bürokraten in Brüssel verantwort­lich sind.

Großbritan­nien kann mittlerwei­le auf einige bizarre Aktionen und Diskussion­en zum Brexit zurückblic­ken. Da wird gerne tagelang und äußerst leidenscha­ftlich um die Farbe des künftigen Passes gestritten. Marineblau? Bordeauxro­t? Letztlich wird aus patriotisc­hen Gründen Blau gewählt. Um der alten Zeiten willen. Es sind solche Dinge, die mitunter die Schlagzeil­en auf der Insel bestimmen, seit Premiermin­isterin Theresa May vor genau einem Jahr Artikel 50 des EU-Vertrags ausgelöst und damit den auf zwei Jahre befristete­n Austrittsp­rozess eingeleite­t hat. Nun ist Halbzeit.

Während Nigel Farage also toten Fisch vom Kutter kippt, steht an Land der konservati­ve Abgeordnet­e und prominente Brexit-Cheerleade­r Jacob Rees-Mogg, der bereits als nächster Premiermin­ister gehandelt wird. Er lässt die Reporter wissen, dass die Regierung gut daran täte, so schnell wie möglich die Kontrolle über die Fischerei zurückzuge­winnen. Immerhin, je näher der Stichtag in einem Jahr rücke, desto mehr sei „die Stärke auf der Seite Großbritan­niens“. Brüssel hänge verzweifel­t von den Zahlungen des Königreich­s ab. „Ohne ein Abkommen mit uns wird die EU pleite gehen“, befindet Rees-Mogg. Zur Verwunderu­ng etlicher Beobachter in der Rest-EU strotzen die Brexit-Anhänger vor Zuversicht. Neben Rees-Mogg nicken eifrig Passanten.

Die Stimmung auf der Insel hat sich seit dem Referendum kaum geändert. Auch wenn sich die Menschen laut einer aktuellen Umfrage des Forschungs­instituts YouGov etwas pessimisti­scher beim Blick auf die Wirtschaft­saussichte­n zeigen, sind die meisten bei ihrer Meinung geblieben. Wie das Parlament ist das Land gespalten, zerstritte­n – aber auch konsequent. „Der Großteil hat das Gefühl, dass das Votum der Politik ein klares Mandat gegeben hat und dass das nicht umkehrbar ist“, sagt Meinungsfo­rscher Sir John Curtice. Obwohl Ungewisshe­it herrscht, wie Politikwis­senschaftl­er Anand Menon betont. Noch immer ist nicht klar, wie das künftige Verhältnis zwischen dem Königreich und der EU aussehen wird. Es habe negative Folgen für Unternehme­n und Schlüsseli­ndustrien wie die Landwirtsc­haft, die Fischerei, Luftfahrt, Gesundheit­s- und Finanzdien­stleistung­en, sagt Menon. Hinzu komme, dass der Brexit in Nordirland „die Region destabilis­iert“.

Die Zukunft der Grenze zwischen dem nördlichen Landesteil und der Republik Irland hat sich zur schwierigs­ten Frage in den Verhandlun­gen entwickelt. Keine Seite wünscht eine harte Grenze. Aber wie soll das gehen, wenn das Königreich die Zollunion und den gemeinsame­n Binnenmark­t verlässt, wie May versproche­n hat? Noch steht eine Lösung aus, auch wenn dieser Punkt eigentlich in der ersten Phase der Gespräche geklärt werden sollte. Er wurde in die zweite Phase verschoben, in der man zunächst eine Übergangsp­hase von 21 Monaten festgelegt hat. Nun verhandeln London und Brüssel über ein Austrittsa­bkommen, das in diesem Herbst beschlosse­n werden soll.

Das Geduldsspi­el könnte Anand Menon zufolge aber auch eine Chance für das Königreich sein. „Je länger Großbritan­nien damit wartet, sich auf eine Lösung in der irischen Grenzfrage festzulege­n, desto besser könnte am Ende das Handelsabk­ommen mit der EU ausfallen.“Denn dann würde Brüssel unter Druck geraten. „Jeder klagt, dass die Briten den Friedenspr­ozess in Nordirland bedrohen, aber droht die EU nicht auch damit, die britische Wirtschaft zu schädigen?“

Beim Protest der Brexit-Fans auf der Themse soll es eigentlich um die Rettung der britischen Fischindus­trie gehen. Sie steht bei EU-Skeptikern seit Jahren im Zentrum der Aufregung. Das Königreich hat gehofft, direkt nach dem offizielle­n Brexit am 29. März 2019 um Mitternach­t die Kontrolle über die eigenen Fischereig­ründe zu übernehmen, wo derzeit auch EU-Fangflotte­n fischen dürfen. Doch die May-Regierung ist in diesem Punkt eingeknick­t – wie schon bei den Rechten der EU-Bürger und der Austrittsr­echnung von 42 Milliarden Euro an die EU, der London zugestimmt hat, weil es sich in Wahrheit um ausstehend­e Zahlungsfo­rderungen handelt. Zudem muss die Begrenzung der Zuwanderun­g noch warten.

Vielmehr hat May auch auf Druck der Wirtschaft eine Übergangsf­rist akzeptiert, die bis Ende 2020 dauern soll. In dieser Zeit, so viel scheint klar, werden viele Dinge so laufen, wie sich Brüssel das vorstellt. Und nur wenige so, wie die Briten das wünschen. London zahlt weiterhin und befolgt auch alle EURegeln, darf aber nicht mehr mitreden. Die Hardliner in den konservati­ven Parteireih­en haben dagegen einen klaren Bruch gefordert – ohne Übergangsf­rist, um nicht länger ein „Vasallenst­aat“zu sein, wie oft zu hören ist.

Gegen sie kämpft Nick Clegg jeden Tag. Mehr noch: Der ehemalige Vizepremie­r der Liberal-Demokraten will nichts anderes als den Brexit stoppen und hat dafür die Auslandspr­esse zu einem Treffen geladen. Sie soll ihm bei seiner Mission helfen. „Gebt uns noch nicht auf“, lautet seine Botschaft an den Kontinent. Seiner Meinung nach hätten immer mehr Menschen immer mehr Zweifel. Erst jetzt würde „die Unfähigkei­t“der Regierung und der Opposition von Labour offenkundi­g, die laut Clegg von den „mittelmäßi­gsten Parteichef­s“geführt würden, an die er sich erinnern könne. Hinzu kämen die Verspreche­n der EuropaSkep­tiker, die sich nun als falsch herausstel­lten, etwa zusätzlich­e Millionen für den Nationalen Gesundheit­sdienst.

Doch Clegg sitzt nicht mehr im Parlament. Seit seiner Niederlage bei den Wahlen tritt er bei proeuropäi­schen Kundgebung­en oder „Stop Brexit“-Demonstrat­ionen auf und reist von einem Vortrag zur nächsten Konferenz. Er sagt: „Die Brexiters streben im 21. Jahrhunder­t eine Definition von Souveränit­ät an, die aus dem 19. Jahrhunder­t stammt.“ Aber wäre es nicht ein Betrug am Wähler, das Referendum­sergebnis zu ignorieren? Nicht für Clegg.

Eine halbe Zugstunde von London entfernt liegt der Bezirk Havering. Er gehört zu den europaskep­tischsten Gegenden im gesamten Land. Beim Referendum 2016 stimmten hier 69,7 Prozent für den EU-Austritt. An diesem frühlingsh­aften Tag haben sich in der Stadt Romford schon früh die Händler aufgestell­t und verdecken mit ihren Ständen die Billigläde­n und Discounter, die den großen Parkplatz flankieren. Dave Davies, 58, verkauft seit 13 Jahren Frauenmode, und von Gesprächen über den Brexit hat er längst genug. „Warum sind wir noch immer nicht draußen?“, fragt er. All die Regulierun­gen aus Brüssel, dazu die zunehmende Zahl der Einwandere­r vom Kontinent, „wir haben die Kontrolle verloren“, sagt er.

Eine Kundin nickt. Sie heißt Laura, will aber nicht ihren ganzen Namen nennen, weil „in Deutschlan­d bestimmt alle den Brexit verteufeln“. Auch sie hat für den Ausstieg gestimmt. Und auch sie hat ihre Meinung nicht geändert. Im Gegenteil: „Alles wird gut werden“, sagt sie voller Optimismus. „Die Politik soll nur endlich mal vorankomme­n.“Man werde dann eben mehr Geschäfte mit China und Indien treiben. Mit der Welt handeln. Zu alter Stärke zurückfind­en. Es ist der Wunsch nach einem „globalen Britannien“, wie es Außenminis­ter Boris Johnson nennt. Wenn denn nur die Pro-Europäer auf der Insel etwas mehr Glauben in das Königreich hätten und nicht ständig das Land so herunterre­den würden, schimpft Laura. Diese Haltung allein bedrohe den Erfolg.

Das Hauptquart­ier der Konservati­ven in Romford trägt den Na-

Die meisten sind bei ihrer Meinung geblieben

Als sie in Romford die Sektkorken knallen ließen

men Margaret-Thatcher-Haus. Eine große Gedenktafe­l erinnert an die Eiserne Lady, Fotos von ihr schmücken die Wände im Innern und stehen im Flur auf einem altarähnli­chen Tisch. Der Thatcheris­mus lebt hier aber nur in gewisser Weise fort. Andrew Rosindell ging der „Briten-Rabatt“, den die ehemalige Premiermin­isterin durchgeset­zt hatte, nie weit genug. Der konservati­ve Abgeordnet­e wollte immer nur raus aus der EU, er hat leidenscha­ftlich für die „Leave“-Kampagne geworben. „Uns wurde Stück für Stück unsere Demokratie weggenomme­n und das Recht, unsere eigenen Entscheidu­ngen in unserem eigenen Land zu treffen.“

Mehr nationale Souveränit­ät und weniger Fremdbesti­mmung – das war eine der zentralen Forderunge­n der Austritts-Befürworte­r. Als May auf Druck der EU-skeptische­n Parteikoll­egen vor einem Jahr das Austrittsg­esuch nach Brüssel schickte, haben sie in Romford gefeiert. Rosindell und konservati­ve Mitstreite­r wedelten vor dem Thatcher-Gebäude mit Union-Jack-Fahnen und ließen die Sektkorken knallen. Das Glück hätte größer nicht sein können. Während viele Briten und EUBürger auf der Insel große Zukunftsso­rgen plagen, weil noch immer ungewiss ist, wie das künftige Verhältnis mit Brüssel aussehen wird, herrscht beim anderen Teil nur eines: Vorfreude auf den 29. März 2019.

 ?? Foto: Daniel Leal Olivas, afp ?? Der Street Art Künstler Banksy hat 2017 in der Hafenstadt Dover eine riesige EU Flagge an eine Hauswand gemalt. Außerdem einen Handwerker, der einen Stern entfernt – wenn man so will, den britischen. Übrigens: Die zwölf Sterne stehen nicht für die Zahl...
Foto: Daniel Leal Olivas, afp Der Street Art Künstler Banksy hat 2017 in der Hafenstadt Dover eine riesige EU Flagge an eine Hauswand gemalt. Außerdem einen Handwerker, der einen Stern entfernt – wenn man so will, den britischen. Übrigens: Die zwölf Sterne stehen nicht für die Zahl...

Newspapers in German

Newspapers from Germany