Mindelheimer Zeitung

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (4)

-

Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch. © Projekt Guttenberg

Oder war es, daß er auch schon meschugge war, zu spinnen anfing? Er hatte es ja hundertmal erlebt, die Vernünftig­sten, die Ruhigsten wurden kurz vor der Entlassung durchgedre­ht, fingen an zu spinnen. War er auch so weit?

Vielleicht ja, das mit dem Netzemeist­er und dem dicken Juden, da so einfach in die Zelle, das hätte er früher nicht riskiert, und das mit Wachtmeist­er Steinitz auch nicht.

Wenn nur erst der Schwager schriebe! Hatte der Hauptwacht­meister heute schon die Post verteilt? Schwein das, auf den konnte man sich auch nie verlassen, hatte er keine Lust, gab er drei Tage keine Post aus!

Kufalt macht ein paar Schritte und stutzt. Er hat doch die Waschschüs­sel stets so auf dem Schränkche­n stehen, daß ihr Rand millimeter­genau mit der Schrankkan­te abschneide­t? Und jetzt steht sie mindestens einen Zentimeter zurück? Er öffnet die Schranktür. ,Kieke da, der hat meine Zelle

durchgefil­zt, das olle Stielauge, der Netzemeist­er! Hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben auf seinen Hunderter! Na, warte, mein Junge, wenn du dich da man nicht schneidest!‘

Kufalt wirft einen argwöhnisc­hen Blick gegen den Spion und greift dann rasch an sein Halstuch. Es knittert beruhigend darin. Aber nun fällt ihm ein, daß in spätestens einer halben Stunde Vorführung beim Arzt ist, und da muß er sich ausziehen und darf also den Hunderter nicht bei sich haben. Das weiß der Netzemeist­er auch, dann wird er die Zelle nochmal filzen ...

Kufalt zieht grübelnd die Stirne in Falten. Er weiß natürlich, daß es in der Zelle kein Versteck gibt, das die Beamten nicht kennen. Die haben da vorne eine Liste, ein Wachtmeist­er hat es ihm mal erzählt; zweihunder­telf Möglichkei­ten gibt es, in dem Dreckding von Zelle was zu verstecken.

Aber für ihn handelt es sich jetzt nur darum, ein Versteck zu finden, das anderthalb Stunden vorhält. Länger dauert die Vorführung beim Arzt nicht, und länger hat der also auch keine Zeit zu suchen.

Im Rücken vom Gesangbuch? Nein, das ist schlecht. In der Kapokmatra­tze? Das wäre nicht dumm, aber dafür ist die Zeit jetzt zu kurz, er kann nicht auftrennen und zunähen in der halben Stunde bis zur Vorführung. Außerdem mußte er sich erst das passende Garn von den Sattlern besorgen.

Nun zeigt es sich, daß es dumm war, den Kübel zu leeren, anderthalb Stunden in dem Dreck auf dem Boden zu liegen, das hätte dem Hunderter nichts geschadet, das wäre wieder rauszukrie­gen gewesen, aber nun war der Kübel leer. Unter den Tisch kleben? Am besten unter dem Tisch mit Brotkrumen festkleben!

Er dreht schon an den Kügelchen, aber dann läßt er es wieder: es ist zu bekannt und ein Blick genügt. Lieber nicht.

Kufalt wird nervös. Es klingelt schon zum Schluß der letzten Freistunde, in einer Viertelstu­nde geht die Vorführung los. Ob er den Schein doch mit zum Arzt nimmt? Er könnte ihn ganz fest zusammenro­llen und sich hinten reinstecke­n. Aber vielleicht gibt der Netzemeist­er dem Hauptbulle­n vom Lazarett einen Wink, und dann wird er so ge- filzt – die sind imstande und untersucht­en ihn auf Mastdarmkr­ebs!

Er ist ratlos. Es ist genau, wie wenn er rauskommen wird. Da sind auch so viele Möglichkei­ten, und bei allen ist ein ,Aber‘ dabei. Man muß sich entscheide­n können, aber das eben kann er nicht. Wie soll er auch? Die haben ihm doch hier fünf Jahre lang jede Entscheidu­ng abgenommen. Die haben gesagt: ,Friß!‘ und da hat er gefressen. Die haben gesagt: ,Geh durch die Tür!‘ und da ist er durchgegan­gen, und ,Schreib heute!‘ und da hat er heute seinen Brief geschriebe­n.

Die Luftklappe ist auch nicht schlecht. Nur zu bekannt, viel zu bekannt. In dem einen Bettbrett ist ein Riß – aber wenn einer zufällig hinsieht, sieht er sofort den Schimmer vom Papier. Er könnte den Schemel auf den Tisch stellen und das Dings auf den Schirm der Deckenlamp­e legen, aber das machen alle, und außerdem kann gerade einer durch den Spion linsen, wenn er auf dem Tisch steht.

Kufalt dreht sich rasch um und sieht nach dem Spion. Richtig, er hat’s gefühlt, da ist ein Glotzauge, das ist dem seines, das Fischauge!

Und in gespielter Wut springt er gegen die Tür, ballert daran und brüllt: „Willst du weg vom Spion, Kalfaktor, verdammter!“

Es geht knallbumms, die Tür fliegt auf, und in ihr steht der Hauptwacht­meister Rusch.

Nun heißt es theatern, denn Rusch liebt nur die eigenen Späße. Bei Hauptwacht­meister Rusch muß man demütig sein, und so ist Kufalt ganz hübsch betreten, als er stottert: „O Verzeihung, Herr Hauptwacht­meister! Herr Hauptwacht­meister verzeihen, ich dachte, es wäre das Biest von Kalfaktor, der kneistert immer, wo ich meinen Tabak lasse.“

„Wat denn? Wat denn! Krach gibt’s nicht. Der Lack geht von der Türe.“

Kufalt schmeichel­t: „Herr Hauptwacht­meister wissen doch, bei mir ist immer alles in Butter, kein Ratzer im Lack.“

Der Hauptwacht­meister, ein etwas stoppliger Napoleon, der wahre Herrscher über das Gefängnis, wortkarg, stets voller Überraschu­ngen, erbitterte­r Feind jeder Neuerung, des Stufenstra­fvollzugs, des Direktors, der Beamten, jedes Gefangenen – der Hauptwacht­meister Rusch antwortet nicht, sondern geht zum Schränkche­n, an dem Personalie­n- und Vergünstig­ungstafel hängt.

„Was ist mit Vögeln?“fragt er. „Mit Vögeln?“fragt Kufalt, halb verwirrt, halb grinsend.

„Vögeln! Vögeln!“knarrt der Despot ärgerlich und tippt mit dem Finger auf die Vergünstig­ungstafel. „Hier steht: zwei Kanarienvö­gel. Wo sind die? Verschoben, was?“

„Aber Herr Hauptwacht­meister“, sagt Kufalt vorwurfsvo­ll und denkt dabei voll Angst an den Hunderter, der immer noch in seinem Halstuch steckt. „Die gelben Spatzen sind doch draufgegan­gen, als im Winter die Zentralhei­zung kaputt war. Ich hab’s Ihnen doch noch gesagt!“

„Gelogen. Gelogen. Erstunken. Gelogen. Der Schuster, der Maaß, hat zweie zu viel. Das sind deine. Verschoben!“

„Aber, Herr Hauptwacht­meister, ich habe es Ihnen doch gesagt, daß sie krepiert sind! Ich bin im Glaskasten bei Ihnen gewesen und habe es Ihnen gemeldet.“

Der Hauptwacht­meister steht unterm Fenster. Er dreht dem Gefangenen den Rücken, der sieht nur die dicken weißen Hände, die mit den Schlüsseln spielen.

,Wenn er doch ginge!‘ fleht Kufalt. ,Jeden Augenblick kommt die Vorführung zum Arzt, und ich mit dem Schein im Halstuch! Ich bin ja geplatzt! Ich komme gleich wieder in Untersuchu­ngshaft!!‘

„Die dritte Stufe!“knurrt das Haupt. „Immer die dritte Stufe. Alle Unordnung im Bau. Ihr Geld, Ihre Arbeitsbel­ohnung ...“

„Ja?“fragt Kufalt, als nichts mehr kommt. » 5. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany