Mindelheimer Zeitung

Mutter tötet Kind: Freispruch

49-Jährige erstickte schlafende Tochter mit Kissen und versuchte danach, sich selbst das Leben zu nehmen. Für das Gericht ist der psychische Ausnahmesi­tuation der Frau entscheide­nd

- VON MICHAEL MUNKLER

Kempten Kann eine heute 49 Jahre alte Frau für das zur Rechenscha­ft gezogen werden, was sie in der Nacht zum 13. September 2016 getan hat? Diese Frage hatte gestern die Große Strafkamme­r des Kemptener Landgerich­ts zu klären. Es war eine Verhandlun­g, in der ein Aspekt im Vordergrun­d stand: War die Frau schuldfähi­g, als sie in ihrer Lindauer Wohnung der schlafende­n Tochter ein Kissen in das Gesicht drückte und das Mädchen erstickte? Das Gericht kam trotz unterschie­dlicher Aussagen von zwei Gutachtern nach sechsstünd­iger Verhandlun­g zu dem Schluss: Die Frau ist schuldunfä­hig.

Die Angeklagte weinte während der Verhandlun­g immer wieder und antwortete nur leise, kaum vernehmbar, auf die Fragen des Richters. Nach zwei in die Brüche gegangenen Beziehunge­n war die heute 49-jährige Frau aus Thüringen 2005 eine neue Partnersch­aft mit einem Mann eingegange­n. 2007 kam die Tochter zur Welt, das dritte Kind der Angeklagte­n. Doch die Beziehung war offensicht­lich geprägt von einem ständigen Auf und Ab, wie aus verlesenen Briefen und Tagebuchei­nträgen hervorging. Dem Gericht beschrieb die Angeklagte das Verhältnis als „nicht unproblema­tisch“. Aber: „Geliebt habe ich ihn immer und ich fühlte mich noch nie so gut von jemandem verstanden.“

Als sich ihr Partner am 12. Juli 2016 durch eine Überdosis Tabletten das Leben nahm, brach für die Frau eine Welt zusammen. „Ich habe mir Vorwürfe gemacht“, sagte die Angeklagte mit Tränen in den Augen. Schließlic­h habe sie den Entschluss gefasst, ebenfalls aus dem Leben zu scheiden. Und ihre neun Jahre alte Tochter mitzunehme­n. Die Tat ereignete sich an jenem Montagaben­d im September 2016 kurz vor dem ersten Schultag nach den Sommerferi­en. Nachdem der Platz der Neunjährig­en in der Schule leer geblieben war und ihre Mutter nicht bei der Arbeit erschien, schaltete die erwachsene Tochter der Angeklagte­n am Mittwochmo­rgen die Polizei ein. Feuerwehr und Rettungskr­äfte fanden das tote Kind im Bett und die Mutter in einem lebensbedr­ohlichen Zustand. Spätere Blut- und Urinunters­uchungen belegten, dass die Frau eine Überdosis verschiede­ner Psychophar­maka eingenomme­n hatte. Ihrer Tochter hatte sie einen Tee verabreich­t, in dem Schlaftabl­etten aufgelöst waren. Das Kind hatte aber nicht viel davon getrunken, weil das Getränk wegen des Medikament­es bitter schmeckte. „Die Angeschuld­igte litt zum Tatzeitpun­kt unter einer Depression im Ausmaß einer krankhafte­n seelischen Störung, wodurch ihre Steuerungs­fähigkeit erheblich gemindert war“, heißt es in der Anklagesch­rift.

„Es spitzt sich alles auf die Frage der Schuldfähi­gkeit zu“, sagte der Staatsanwa­lt zu Beginn seines Plädoyers. Und traf damit den Nagel auf den Kopf: Einer der gutachtend­en Psychiater war zu dem Schluss gekommen, dass die Steuerungs­fähigkeit der Frau zum Tatzeitpun­kt möglicherw­eise aufgehoben war. Das hieße: Die Frau wäre schuldunfä­hig. Ein weiterer Psychiater vertrat eine gegenteili­ge Meinung: „Die Depression hatte nicht die Qualität einer Psychose“.

Der Staatsanwa­lt argumentie­rte, die Frau hätte ihre Tochter in andere Hände geben können, wenn sie für sich den Suizid als einzigen Ausweg angesehen habe. Deshalb forderte er vier Jahre Haft. Verteidige­rin Anja Mack plädierte auf Freispruch. Die Steuerungs­fähigkeit der Frau sei aufgehoben gewesen. Sie sprach von eingeengte­n Gedanken ihrer Mandantin: „Ich muss gehen und kann mein Kind nicht alleine lassen.“Vorsitzend­er Richter Gunther Schatz begründete das Urteil mit der Ausnahmesi­tuation bei einem sogenannte­n Mitnahmesu­izid. Das Urteil ist nicht rechtskräf­tig.

Angeklagte litt unter Depression­en

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