Es mangelt am Hintergrund
Die Diagnose steht fest: Immer mehr Schüler haben Verständnisprobleme bei der Lektüre klassischer Literatur. Helfen sollen nun die neuen Medien, die das Problem mitverursacht haben
Bonn „So ein Scheiß“flucht König Ödipus. „Ödi!“mahnt seine Frau Iokaste. Die Figuren aus dem antiken Drama von Sophokles sprechen im Youtube-Video von Michael Sommer wie Jugendliche von heute. An die 200 literarische Werke hat der Theatermacher und langjährige Dramaturg in den vergangenen drei Jahren mit Hilfe von Playmobil-Figuren verfilmt. Viele Schüler nutzen die Kurzfilme mittlerweile als Informationsquelle. „Die sind lustig und bringen die Geschichten auf den Punkt“, meint zum Beispiel die 16-jährige Bonnerin Sophie. „Die Sprache in den Originaltexten ist oft so extrem abgehoben, dass sie schwer zu verstehen sind.“
Michael Sommer hat mit seinen Filmen über Klassiker wie Goethes „Faust“, Büchners „Woyzeck“und Kafkas „Die Verwandlung“einen Nerv getroffen. Präsentiert werden sie vom Reclam-Verlag. Besonders beliebte Schullektüre-Verfilmungen wurden schon mehrere hunderttausend Mal aufgerufen. Ob er darin aber auch dieselbe gedankliche Tiefe erreicht, wie sie intensive Lektüre zu vermitteln vermag? „Theater ist schön. Literatur ist schön. Aber für den Hausgebrauch viel zu lang“, sagt Sommer auf seinem YoutubeKanal.
Das sehen offenbar auch viele Schüler so. Immer mehr haben Schwierigkeiten mit älteren literarischen Texten. Beate Kennedy, Bundesvorsitzende im Fachverband Deutsch des Deutschen Germanistenverbandes, stellt fest, dass vielen Jugendlichen heute einfach der nötige Hintergrund fehle.
„Die Hälfte meiner Schüler kennt zum Beispiel Grimms Märchen nicht mehr“, sagt Kennedy. Auch biblisches Wissen könne nicht vorausgesetzt werden. „Und viele Wörter, die man vornehmlich in schriftlichen Texten und nicht in der gesprochenen Sprache findet, sind nicht mehr bekannt.“Die Schulklassen würden immer heterogener. In den vergangenen zehn Jahren seien die Anforderungen an den Deutschunterricht deshalb extrem gestiegen.
Die Deutschlehrerin aus Schleswig-Holstein hat sich auf die veränderte Lage eingestellt: Bevor sie mit den Schülern inhaltlich über Texte von Autoren wie Goethe, Schiller, Büchner und Brecht spricht, erarbeitet sie erst einmal historischen Hintergrund und Vokabular. „Es geht wie im Fremdsprachenunterricht erst einmal darum, Wissen zu klären.“
Die Verlage bieten dazu schon lange Materialien in kommentierten Klassiker-Ausgaben, die auch einzelne Begriffe erläutern. Und es gibt multimediale Angebote wie „musstewissenDeutsch“auf Youtube, ein Format des Jugendsenders „funk“von ARD und ZDF – Lektüre-Hilfen und Informationen zu Epochen jugendgerecht präsentiert. Das Portal Multiskript der Journalistin Beate Herfurth-Uber stellt in Hörbüchern Werke wie „Dantons Tod“und „Faust“vor; Schlüsselszenen stammen aus Theaterinszenierungen; Wissenschaftler und Regisseure liefern in Interviews Einordnung. Ihr Hörbuch über Lessing ist für den Hörbuchpreis 2018 nominiert.
Mit umfänglichen Romanen tun sich heutige Schüler viel schwerer als frühere Generationen, bestätigt auch Klaus Maiwald, Professor für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Augsburg. Das liege an der Flut von Informationen, denen Jugendliche durch die Neuen Medien ausgesetzt seien – und an der Konkurrenz von Computerspielen und Filmen. Diese hätten auf der sinnlichen Ebene einfach mehr zu bieten: „Dagegen sieht das Buch ziemlich alt aus.“
Den Untergang der abendländischen Kultur befürchtet der 1960 in Nürnberg geborene Maiwald gleichwohl nicht: „Die Literatur stirbt nicht, sondern findet neue Wege und Medien.“Der Roman sei schon im 20. Jahrhundert durch den Film als Hauptmedium des Erzählens abgelöst worden. Maiwald sieht kein Problem darin, andere Medien als das Buch in den Deutschunter- richt zu integrieren. Lehrer könnten auch einmal nur einen Auszug aus einem Werk besprechen und die Verfilmung anschauen. „Auch so kann man vermitteln, was ein literarischer Text kann.“
Für Beate Kennedy bieten Film und Neue Medien ebenfalls Chancen für den Deutschunterricht: Sie lässt zum Beispiel Schüler Szenen aus literarischen Werken szenisch umsetzen und filmen.
Simone Ehmig von der Stiftung Lesen ist optimistisch: „Die Nutzung der digitalen Medien geht nicht zulasten des Spaßes am Lesen.“Das zeigten Studien der vergangenen Jahre. Laut der bundesweiten JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest lasen im vergangenen Jahr 40 Prozent der Jugendlichen zwischen zwölf und 19 Jahren täglich oder mehrmals wöchentlich in ihrer Freizeit Bücher.
Inhaltlich hätten Goethe & Co ohnehin noch nicht ausgedient, ist Kennedys Erfahrung. Viele Schüler wüssten nach wie vor um den Wert älterer Literatur: „Der Mythos der Klassik ist noch nicht verloren.“Klaus Maiwald in Augsburg glaubt, man könne Jugendliche auch heute noch für ältere Literatur interessieren – wenn Werke ausgewählt werden, in denen es um Grundfragen des menschlichen Seins gehe.
Mehr als der Bedeutungsverlust der Klassiker beschäftigt den Germanisten-Ordinarius ein anderes Phänomen: Viele Jugendliche seien nicht mehr darin geübt, begründet und faktenbasiert zu argumentieren, da in den sozialen Medien oft nur verkürzt kommuniziert werde. Hier sei die Schule gefordert.
Die Flut der neuen Medien und die Konkurrenz der Computerspiele