Zwei Gutachter, zwei Meinungen
Ein schwerer Unfall bei Mattsies wird juristisch aufgearbeitet. Doch die Schuldfrage zu klären, ist nicht einfach
Mattsies Es sind schon mehr als 30 Minuten vergangen. Mehr als 30 Minuten, in denen zwei Gutachter vor Gericht ihre widersprüchlichen Ansichten über einen schweren Unfall in Mattsies dargelegt und diskutiert haben, da platzt es plötzlich aus Jugendrichter Markus Veit heraus: „Wollen Sie diesen Zirkus?“, fragt er den 21-jährigen Angeklagten. „Das ist unwürdig. Wir haben eine schwerstverletzte Frau und Sie haben auch Mist gebaut.“
In dieser Verhandlung vor dem Memminger Amtsgericht ging es um einen Samstag im Mai vergangenen Jahres. Auf der Lettenbachstraße zwischen Mattsies und Zaisertshofen, die am Firmengelände von Grob Aircraft vorbeiführt, kam es zum Zusammenstoß zweier Autos. Die 57-jährige Fahrerin des einen Wagens wurde eingeklemmt und sitzt bis heute wegen der Unfallfolgen im Rollstuhl. Ihr Sohn, der als Beifahrer mitfuhr, wurde bei dem Unfall leicht verletzt. Der 21-jähri- ge Fahrer des entgegenkommenden Autos musste wegen seiner Prellungen zwei Tage im Krankenhaus verbringen. Nun sitzt er auf der Anklagebank.
Der Vorwurf: fahrlässige Körperverletzung. Der Mann sei 70 Zentimeter über der geometrischen Mitte der Straße gefahren, heißt es in der Anklage – aufgrund seiner Unaufmerksamkeit sei es zu dem Zusammenstoß mit dem Auto der Unterallgäuerin gekommen. Die Frau erlitt schwerste Verletzungen: mehrere Brüche an der Ferse, am Sprunggelenk, am Ober- und Unterschenkel, am Becken und an der Hand.
Zum genauen Unfallhergang kann kaum einer der Beteiligten detailliertere Angaben machen. Der Angeklagte sagt, er könne sich nicht mehr an den Unfall erinnern. Der 16-jährige Sohn der Frau erklärt vor Gericht, dass seine Mutter generell eher langsamer fahre. Auf den Tacho geschaut habe er aber nicht. Er habe gerade das Handy seiner Mutter eingerichtet und kurz hochgeblickt. „Auf einmal sehe ich ein mit hoher Geschwindigkeit auf uns zukommen.“
„Auf einmal kam ein schwarzer Audi“, schildert es auch seine Mutter. „Frontal auf mich zu.“Sie sei noch weiter rechts gefahren, weil die Straße recht eng sei. Sie glaubt, dass sie auch gebremst habe, sagt sie, und dass sie hupen wollte. Ganz sicher ist sie sich nicht.
Seit dem Unfall hat sich ihr Leben grundlegend verändert. Von Mai bis Anfang Juli war sie im Krankenhaus in Ulm, anschließend in der Kurzzeitpflege in Mindelheim und bis Mitte September in der Reha in Bad Wörishofen. Doch die Brüche verheilten nicht richtig, eine Platte ging kaputt und nun müsse sie wieder im Rollstuhl sitzen, erläutert die Frau auf Nachfrage des Richters. Wie oft sie operiert worden sei, könne sie nicht sagen. Nach momentanem Stand könne sie nicht mehr arbeiten.
Es folgt die halbe Stunde der Gutachter, die mit Fachbegriffen teils nur so um sich werfen. Am Ende können ihre beiden Positionen – und vor allem die Unterschiede dazwischen – herausgearbeitet werden: Der von der Staatsanwaltschaft beauftragte Gutachter geht davon aus, dass eine Spur im Fahrbahnbelag der Straße, die sogenannte Schlagmarke, vom Audi des Angeklagten stammte. Seinen Berechnungen zufolge hatte dieser beim Aufprall noch eine Geschwindigkeit zwischen 90 und 95 km/h, während die Frau mit 60 bis 65 km/h unterwegs war. Erlaubt sind an der Stelle 70.
Der vom Angeklagten und seinem Verteidiger Horst Ohnesorge beauftragte Gutachter hingegen geht davon aus, dass die Schlagmarke vom Mercedes der schwerverletzten Unterallgäuerin stammt. Er kommt in seinen Berechnungen deshalb auf Kollisionsgeschwindigkeiten von 83 bis 85 km/h beim Angeklagten beziehungsweise 53 bis 55 km/h bei der Frau. Ein weiteres, entscheidendes Detail: Seinen BeAuto rechnungen zufolge waren sowohl der Angeklagte als auch die Frau zu weit in der Mitte der Fahrbahn.
Der Verteidiger des jungen Mannes forderte deshalb einen Freispruch für seinen Mandanten. Richter Markus Veit war davon und von den Diskussionen der Gutachter wenig begeistert: „Wenn ihr mich reizt, hole ich einen Obergutachter“, sagte er und wandte sich an den Angeklagten: „Allein, dass Sie auf gerader Straße mit 85 km/h kollidieren, lässt darauf schließen, dass Sie unaufmerksam waren.“Es habe keinerlei Grund gegeben, zusammenzustoßen. Veit befürchtete: „Wenn ich den dritten Gutachter hole, hat der eine dritte Meinung.“
Nach einigem Hin und Her einigten sich die Parteien auf eine Einstellung des strafrechtlichen Verfahrens gegen den 21-Jährigen. Er muss 2500 Euro an die Lebenshilfe zahlen. Richter Markus Veit gab ihm den Rat mit auf dem Weg, sich mit der verletzen Frau in Verbindung zu setzen: „Es ist ein guter Zug, wenn man hingeht“, sagte er.
Der Unfall hat ihr Leben auf den Kopf gestellt