Wenn die Helfer selbst zu Opfern werden
Immer häufiger werden die Mitarbeiter von Rettungsdiensten und Krankenhäusern von aggressiven Patienten oder deren Angehörigen angegriffen. Was die Unterallgäuer Kliniken und das Rote Kreuz dagegen unternehmen
Unterallgäu Samstagabend, eine ausgelassene Party ist in vollem Gange. Plötzlich kommt es zu einem medizinischen Notfall. Der Rettungsdienst ist schnell vor Ort und will helfen, doch dann das: Angetrunkene, pöbelnde Schaulustige versperren den Rettern den Zugang zum Patienten. Von wüsten Beschimpfungen bis hin zu Schlägen und Tritten kann jetzt alles passieren ...
Für Rettungskräfte im Unterallgäu ist das eine durchaus realistische Situation. Und auch die Notaufnahmen der Kreiskliniken sowie des Memminger Krankenhauses haben immer häufiger mit aggressiven Patienten und Angehörigen zu tun. Am Klinikum Memmingen ist deshalb seit mehreren Wochen an den Wochenenden ein externer Sicherheitsdienst im Einsatz. Die Hilfe der Sicherheitskräfte wird vor allem in der Notfallklinik und der angeschlossenen Chirurgischen Ambulanz benötigt, wo Ärzte und Pflegekräfte am häufigsten auf angriffslustige Patienten treffen. „Die größten Probleme bereiten uns meist alkoholisierte junge Männer, die sich geprügelt oder randaliert haben“, sagt die 31-jährige Krankenpflegerin Kerstin Pöppel, die oft nachts und am Wochenende arbeitet. „Zum Teil müssen wir uns üble Beschimpfungen anhören.“
Hier kann ab sofort der Sicherheitsdienst einschreiten: „Meistens » reicht es schon, wenn wir die Patienten mit ruhiger, fester Stimme zur Vernunft bringen“, sagt Andreas Waldmann, einer der Sicherheitsmänner. „Falls das nicht weiterhilft, kennen wir natürlich die richtigen Handgriffe, um einen Angreifer schnell außer Gefecht zu setzen“, ergänzt sein Kollege Florian Groll. Im Dienst tragen sie eine schwarze Uniform, die manch einem renitenten Patienten offenbar mehr Respekt einflößt als der weiße Kittel des Arztes. „Da sind sogar hochaggressive Betrunkene plötzlich ganz brav und kleinlaut“, ist die Erfahrung von Kerstin Pöppel. Damit sie und ihre Kollegen sich auch selbst schützen können, bietet das Klinikum zudem Deeskalationskurse an, in denen sie lernen, brenzlige Situationen zu entschärfen und Angreifer abzuwehren.
Auf solche Kurse setzt auch die Kreisklinik Mindelheim. Zudem haben Beamte der Polizeiinspektion Mindelheim die Mitarbeiter der Notaufnahme geschult, wie sie sich und andere Patienten schützen können. Und auch auf den Umgang mit psychisch kranken oder auffälligen Menschen wurden die Mitarbeiter vorbereitet. Sollten sie trotzdem Hilfe benötigen, seien die Polizisten innerhalb weniger Minuten zur Stelle, so die Klinik. Wird ein Patient bereits in Polizeibegleitung in die Klinik eingeliefert und verhält er sich weiter auffällig, bleiben die Beamten vorsichtshalber mit in der Notaufnahme.
Ersthelfer dagegen sind in den meisten Fällen zunächst auf sich allein gestellt. Die Erfahrung, im Einsatz selbst zur Zielscheibe zu werden, ist vor allem für die vielen ehrenamtlichen Helfer schockierend. Mindelheims Polizeichef Gerhard Zielbauer bestärkt sie, bei jedem Vorfall Anzeige zu erstatten. „Die Einsatzkräfte helfen und stehen selbstlos für andere ein. Viele von ihnen auch ehrenamtlich in ihrer Freizeit. Sie dürfen nicht die Zielscheibe von Aggressionen werden, sondern verdienen mehr Respekt, Anerkennung und Wertschätzung, statt selbst zum Opfer zu werden“, sagt er.
Die Rettungsdienste haben inzwischen Konsequenzen gezogen und bieten ihren Mitarbeitern Selbstverteidigungstrainings an. Auch das Rote Kreuz im Unterallgäu und in Memmingen hat in Zusammenarbeit mit der Memminger M-Sports-Academy in Mindelheim und Memmingen mehrere solcher Fortbildungen angeboten. Dabei hatten die Mitarbeiter Gelegenheit, mit erfahrenen Selbstverteidigungstrainern verschiedene Situationen durchzuspielen. Angefangen vom Erkennen brenzliger Situationen, über deeskalierendes Auftreten bis hin zur konkreten Angriffsabwehr lernten die Retter Tricks und Kniffe und versetzten sich durch Rollenspiele in die jeweilige Situation von Angreifer und Angegriffenem.
Für Thomas Müller, den Wachleiter in Mindelheim und zugleich stellvertretender Leiter des RetDie tungsdienstes im Unterallgäu ist eines besonders wichtig: „Unser Personal muss geschult werden, kritische Situationen richtig zu erkennen und dementsprechend zu handeln. Sollte es wirklich zum Übergriff kommen, müssen die Mitarbeiter sich auch trauen, sich zu wehren, dafür machen wir diese Trainings.“
Beispiele aus der Vergangenheit zeigen, dass solche Szenarien keine Einzelfälle aus Großstädten sind: In Memmingen hat ein angetrunkener Angehöriger hemmungslos zu- und einem BRK-Mitarbeiter im Einsatz einen Zahn ausgeschlagen.
Auch der Gesetzgeber hat auf die veränderte Lage reagiert und nachgebessert. Im Paragraph 115 (3) im Strafgesetzbuch wurde der Angriff auf Rettungskräfte nun dem auf Vollstreckungsbeamte gleichgestellt.
Eine technische Neuerung soll die Rettungskräfte zusätzlich unterstützen. Seit der Umstellung auf den Digitalfunk vor rund zwei Jahren hat jedes Funkgerät eine Notruftaste. Aktivieren die Retter diese, haben sie sofort eine direkte Verbindung zur Leitstelle und können Unterstützung durch die Polizei anfordern. Doch trotz all dieser Neuerungen ist den Teilnehmern in den Trainings eines klar: Die Selbstverteidigung ist die Ultima Ratio. Erst wenn alle Deeskalation versagt hat, die Polizei noch nicht vor Ort ist und sie körperlich angegangen werden, dürfen und werden sie sich wehren, um sich selbst zu schützen.