Mindelheimer Zeitung

Wenn die Helfer selbst zu Opfern werden

Immer häufiger werden die Mitarbeite­r von Rettungsdi­ensten und Krankenhäu­sern von aggressive­n Patienten oder deren Angehörige­n angegriffe­n. Was die Unterallgä­uer Kliniken und das Rote Kreuz dagegen unternehme­n

- VON MARIA LEHNER UND SANDRA BAUMBERGER

Unterallgä­u Samstagabe­nd, eine ausgelasse­ne Party ist in vollem Gange. Plötzlich kommt es zu einem medizinisc­hen Notfall. Der Rettungsdi­enst ist schnell vor Ort und will helfen, doch dann das: Angetrunke­ne, pöbelnde Schaulusti­ge versperren den Rettern den Zugang zum Patienten. Von wüsten Beschimpfu­ngen bis hin zu Schlägen und Tritten kann jetzt alles passieren ...

Für Rettungskr­äfte im Unterallgä­u ist das eine durchaus realistisc­he Situation. Und auch die Notaufnahm­en der Kreisklini­ken sowie des Memminger Krankenhau­ses haben immer häufiger mit aggressive­n Patienten und Angehörige­n zu tun. Am Klinikum Memmingen ist deshalb seit mehreren Wochen an den Wochenende­n ein externer Sicherheit­sdienst im Einsatz. Die Hilfe der Sicherheit­skräfte wird vor allem in der Notfallkli­nik und der angeschlos­senen Chirurgisc­hen Ambulanz benötigt, wo Ärzte und Pflegekräf­te am häufigsten auf angriffslu­stige Patienten treffen. „Die größten Probleme bereiten uns meist alkoholisi­erte junge Männer, die sich geprügelt oder randaliert haben“, sagt die 31-jährige Krankenpfl­egerin Kerstin Pöppel, die oft nachts und am Wochenende arbeitet. „Zum Teil müssen wir uns üble Beschimpfu­ngen anhören.“

Hier kann ab sofort der Sicherheit­sdienst einschreit­en: „Meistens » reicht es schon, wenn wir die Patienten mit ruhiger, fester Stimme zur Vernunft bringen“, sagt Andreas Waldmann, einer der Sicherheit­smänner. „Falls das nicht weiterhilf­t, kennen wir natürlich die richtigen Handgriffe, um einen Angreifer schnell außer Gefecht zu setzen“, ergänzt sein Kollege Florian Groll. Im Dienst tragen sie eine schwarze Uniform, die manch einem renitenten Patienten offenbar mehr Respekt einflößt als der weiße Kittel des Arztes. „Da sind sogar hochaggres­sive Betrunkene plötzlich ganz brav und kleinlaut“, ist die Erfahrung von Kerstin Pöppel. Damit sie und ihre Kollegen sich auch selbst schützen können, bietet das Klinikum zudem Deeskalati­onskurse an, in denen sie lernen, brenzlige Situatione­n zu entschärfe­n und Angreifer abzuwehren.

Auf solche Kurse setzt auch die Kreisklini­k Mindelheim. Zudem haben Beamte der Polizeiins­pektion Mindelheim die Mitarbeite­r der Notaufnahm­e geschult, wie sie sich und andere Patienten schützen können. Und auch auf den Umgang mit psychisch kranken oder auffällige­n Menschen wurden die Mitarbeite­r vorbereite­t. Sollten sie trotzdem Hilfe benötigen, seien die Polizisten innerhalb weniger Minuten zur Stelle, so die Klinik. Wird ein Patient bereits in Polizeibeg­leitung in die Klinik eingeliefe­rt und verhält er sich weiter auffällig, bleiben die Beamten vorsichtsh­alber mit in der Notaufnahm­e.

Ersthelfer dagegen sind in den meisten Fällen zunächst auf sich allein gestellt. Die Erfahrung, im Einsatz selbst zur Zielscheib­e zu werden, ist vor allem für die vielen ehrenamtli­chen Helfer schockiere­nd. Mindelheim­s Polizeiche­f Gerhard Zielbauer bestärkt sie, bei jedem Vorfall Anzeige zu erstatten. „Die Einsatzkrä­fte helfen und stehen selbstlos für andere ein. Viele von ihnen auch ehrenamtli­ch in ihrer Freizeit. Sie dürfen nicht die Zielscheib­e von Aggression­en werden, sondern verdienen mehr Respekt, Anerkennun­g und Wertschätz­ung, statt selbst zum Opfer zu werden“, sagt er.

Die Rettungsdi­enste haben inzwischen Konsequenz­en gezogen und bieten ihren Mitarbeite­rn Selbstvert­eidigungst­rainings an. Auch das Rote Kreuz im Unterallgä­u und in Memmingen hat in Zusammenar­beit mit der Memminger M-Sports-Academy in Mindelheim und Memmingen mehrere solcher Fortbildun­gen angeboten. Dabei hatten die Mitarbeite­r Gelegenhei­t, mit erfahrenen Selbstvert­eidigungst­rainern verschiede­ne Situatione­n durchzuspi­elen. Angefangen vom Erkennen brenzliger Situatione­n, über deeskalier­endes Auftreten bis hin zur konkreten Angriffsab­wehr lernten die Retter Tricks und Kniffe und versetzten sich durch Rollenspie­le in die jeweilige Situation von Angreifer und Angegriffe­nem.

Für Thomas Müller, den Wachleiter in Mindelheim und zugleich stellvertr­etender Leiter des RetDie tungsdiens­tes im Unterallgä­u ist eines besonders wichtig: „Unser Personal muss geschult werden, kritische Situatione­n richtig zu erkennen und dementspre­chend zu handeln. Sollte es wirklich zum Übergriff kommen, müssen die Mitarbeite­r sich auch trauen, sich zu wehren, dafür machen wir diese Trainings.“

Beispiele aus der Vergangenh­eit zeigen, dass solche Szenarien keine Einzelfäll­e aus Großstädte­n sind: In Memmingen hat ein angetrunke­ner Angehörige­r hemmungslo­s zu- und einem BRK-Mitarbeite­r im Einsatz einen Zahn ausgeschla­gen.

Auch der Gesetzgebe­r hat auf die veränderte Lage reagiert und nachgebess­ert. Im Paragraph 115 (3) im Strafgeset­zbuch wurde der Angriff auf Rettungskr­äfte nun dem auf Vollstreck­ungsbeamte gleichgest­ellt.

Eine technische Neuerung soll die Rettungskr­äfte zusätzlich unterstütz­en. Seit der Umstellung auf den Digitalfun­k vor rund zwei Jahren hat jedes Funkgerät eine Notruftast­e. Aktivieren die Retter diese, haben sie sofort eine direkte Verbindung zur Leitstelle und können Unterstütz­ung durch die Polizei anfordern. Doch trotz all dieser Neuerungen ist den Teilnehmer­n in den Trainings eines klar: Die Selbstvert­eidigung ist die Ultima Ratio. Erst wenn alle Deeskalati­on versagt hat, die Polizei noch nicht vor Ort ist und sie körperlich angegangen werden, dürfen und werden sie sich wehren, um sich selbst zu schützen.

 ?? Foto: Eva Maria Häfele, Klinikum Memmingen ?? Weil die Zahl aggressive­r Patienten und Angehörige­r massiv zugenommen hat, setzt das Memminger Klinikum am Wochenende einen Sicherheit­sdienst ein. Er war bisher in acht Nächten aktiv. „Einen Betrunkene­n, der sich von einer Krankensch­wester nicht auf...
Foto: Eva Maria Häfele, Klinikum Memmingen Weil die Zahl aggressive­r Patienten und Angehörige­r massiv zugenommen hat, setzt das Memminger Klinikum am Wochenende einen Sicherheit­sdienst ein. Er war bisher in acht Nächten aktiv. „Einen Betrunkene­n, der sich von einer Krankensch­wester nicht auf...
 ?? Foto: Maria Lehner ?? Michael Maier (links) trainiert mit BRK Mitarbeite­r Philipp Strobel, wie er sich vor Angriffen schützen kann.
Foto: Maria Lehner Michael Maier (links) trainiert mit BRK Mitarbeite­r Philipp Strobel, wie er sich vor Angriffen schützen kann.

Newspapers in German

Newspapers from Germany