Das tödliche Naturwunder
Mutter Erde ist die beste Giftmischerin. Mensch und Tier haben gelernt, Toxine zu nutzen
Bilder, wie sie wohl jeder schon in einem Dokumentationsfilm gesehen hat: Ein südamerikanischer Ureinwohner reibt eine Pfeilspitze behutsam über einen kleinen Frosch. Bei der Jagd trifft er ein Tier mit seinem Pfeil, das nur Sekunden später zusammenbricht. Aber auch andere Bilder sind in jüngster Zeit über Bildschirme geflackert – seien es Giftgasattacken in Syrien oder ein vergifteter Spion in England. Der Mensch hat gelernt, giftige Substanzen für sich zu nutzen. Dabei musste erst einmal die Natur lernen, Gifte einzusetzen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Pfeilgiftfrosch. Er kam als Erster auf die Idee, ein Gift für sich zu nutzen – zunächst musste er lernen, es überhaupt herzustellen.
Schon seit Jahrzehnten entschlüsselt der Toxikologe Dietrich Mebs die Geheimnisse der Gifte. Mehrere Bücher hat er über das Thema geschrieben, hat in Deutschland, Südamerika und Japan geforscht. „Der Pfeilgiftfrosch kann sein Gift, das Batrachotoxin (BTX), nicht selbst herstellen“, sagt er: „Er frisst bestimmte Ameisen und Milben, die das Gift enthalten, und konzentriert es in seinem eigenen Körper.“Dadurch genießt er einen perfekten Schutz vor Raubtieren – kein Räuber traut sich, die bunten Amphibien zu fressen.
Inzwischen hat der Mensch gelernt, dieses Gift nicht nur für die Jagd zu benutzen. In der Medizin findet es in verschiedenen Bereichen Anwendung. „Für Neurologen bietet es zahlreiche Möglichkeiten“, sagt Mebs. Das BTX blockiere bestimmte Nervenverbindungen und könne dadurch vielfältig eingesetzt werden.
Auch das gefährlichste Gift, das der Menschheit bekannt ist, kommt in der Medizin zum Einsatz: Botulinumtoxin, auch Botox genannt. Gebildet wird es in der Natur von einem Bakterium, das unter bestimmten Voraussetzungen in verrottendem Fleisch vorkommen kann. Bekannt ist es durch seinen Einsatz bei Schönheitsbehandlungen. Mebs zufolge handle es sich dabei aber nur um ein Abfallprodukt der medizinischen Forschung. Botox hat eine lähmende Wirkung, denn es unterbricht die Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel. In der Medizin ist das in einigen Fällen sehr nützlich, etwa bei der Behandlung chronischer Krämpfe. „Geigenspieler leiden manchmal unter solchen Krämpfen in ihrer Hand“, sagt Mebs. Eine stark verdünnte Dosis Botox könne dem Patienten helfen. Auch bei bestimmten Augenleiden kommt das Botulinumtoxin zum Einsatz, etwa einem Lidkrampf. Durch diesen kann ein Betroffener seine Augenlider nicht mehr öffnen – er wird plötzlich blind. Botox kann eine solche Verkrampfung jedoch lösen.
Ein weiteres tödliches Gift ist vor allem mutigen Feinschmeckern bekannt. In Japan ist der Kugelfisch eine Delikatesse. Sein hoch potentes Gift, das Tetrodotoxin (TTX), kann er, wie der Pfeilgiftfrosch, nicht selbst herstellen. Bis heute rätseln Wissenschaftler, wie genau er es produziert: „Eine plausible Theorie besagt, dass er über die Nahrung Bakterien aufnimmt, die das Gift erzeugen“, sagt Mebs. Wer den Fisch essen will, vergiftet sich zwangläufig – wenn er richtig zubereitet ist allerdings nur sehr schwach.
Das TTX weist allerdings Eigenschaften auf, die es für die Krebsbehandlung interessant machen. Franz Bracher forscht als Professor für Pharmazeutische Chemie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München an den Eigenschaften der Toxine: „Einige dieser Gifte wirken stärker auf Krebszellen als auf andere Zellen im menschlichen Körper“, sagt er. Der medizinische Einsatz eines bestimmten Gifts könne dazu führen, dass ein Tumor zerstört wird, ohne dass gesundes Gewebe Schaden nimmt. Bracher zufolge sind die Eigenschaften der Gifte von Meerestieren bisher wenig erforscht: „Das Meer ist sozusagen eine wahre Wundertüte.“
Aber auch zu zerstörerischen Zwecken setzt der Mensch Gifte ein. In ihrer Wirksamkeit kommen sie nicht an die Leistung der natürlichen Toxine heran. Das Gift Zyankali etwa, mit dem sich vergangenes Jahr der bosnisch-kroatische ExMilitärkommandeur Slobodan Pral- jak im Gericht vergiftete, ist bei weitem nicht so stark wie Botulinumtoxin. Die tödliche Dosis von Zyankali muss rund 40 Millionen Mal so hoch sein wie die von Botox.
Doch künstlich hergestellte Gifte sind wesentlich vielfältiger in ihren Einsatzmöglichkeiten. Das Nervengift Nowitschok, mit dem der russische Ex-Spion Sergej Skripal vergiftet wurde, kann als Gas eingesetzt und über die Haut aufgenommen werden. „Eine Schlange muss ihr Gift unter die Haut injizieren, damit es wirkt“, führt Mebs zum Vergleich an. Chemische Kampfstoffe seien speziell darauf ausgelegt, die Hautbarriere zu durchbrechen. Senfgas etwa verursacht schwere Hautverletzungen, dadurch gelangt es sofort in den Körper. Da es als Gas eingesetzt wird, kann es sich zudem schnell in einem großen Gebiet ausbreiten. Für Tiere ist so ein Vorgehen absolut abwegig – sie wollen sich entweder vor Feinden schützen oder ein einzelnes Beutetier erlegen. Dazu brauchen sie keine Kampfstoffe, sondern nur ihre hoch wirksamen Gifte.
Gifte von Kugelfischen können Krebszellen gezielt angreifen