Eine Gratwanderung mit ständiger Absturzgefahr
Warum die neue SPD-Vorsitzende Andrea Nahles die aufgestauten Probleme nicht alleine lösen kann und welcher Konflikt schon bald droht
Ihr enttäuschendes Ergebnis bei der Wahl zur SPD-Parteivorsitzenden ist jetzt nur das kleinste Problem von Andrea Nahles. Auf die erste Frau an der Spitze der ältesten Partei Deutschlands warten Herkulesaufgaben. In ihren Händen liegt nichts weniger als das Überleben der waidwunden deutschen Sozialdemokratie. Nahles übernimmt von ihren Vorgängern Martin Schulz und Sigmar Gabriel einen Scherbenhaufen. Die SPD liegt nach ihrem bislang schlechtesten Abschneiden bei einer Bundestagswahl noch immer am Boden, darüber kann auch die Beteiligung an der ungeliebten Großen Koalition nicht hinwegtäuschen.
Noch immer streiten die Genossen vor und hinter den Kulissen über die richtigen Strategien gegen den drohenden weiteren Absturz. Der Gang in die Regierung, dem ein heftiges Ringen vorausgegangen war, hat der Partei allenfalls eine kurze Verschnaufpause verschafft. Andrea Nahles hat einen Sack voller Probleme geerbt, deren Lösung widersprüchlicher kaum sein könnten: Als Chefin einer Koalitionspartei muss sie dafür sorgen, dass die SPD als zuverlässiger Partner der Union regiert und gleichzeitig den Eindruck bekämpfen, dass es den Ihren nur ums Regieren geht. Mit Kanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel sowie mit dem CSUVorsitzenden Horst Seehofer soll sie sich auf Augenhöhe über die großen Linien der Politik abstimmen, während sie im Willy-Brandt-Haus bereits an Strategien arbeiten muss, um die Union in Zukunft erfolgreicher anzugreifen.
Schon im Herbst stehen in Bayern und Hessen wichtige Landtagswahlen an. Die Parteizentrale, zuletzt immer schwächer in der Organisation und nur noch eingeschränkt kampagnenfähig, ist dabei schon für sich eine Großbaustelle. Ausgerechnet in diesem Chaos sollen nun die Fäden für den so dringend nötigen Erneuerungsprozess der SPD zusammenlaufen, den Nahles zusammen mit Generalsekretär Lars Klingbeil zu moderieren hat. In welche Richtung soll und muss die SPD steuern, wenn die alte Stammwählerschaft, mit gut ausgebildeten Industriearbeitern als Kern, immer weiter schrumpft? Was hat die Sozialdemokratie der Zukunft den Abstiegsängsten großer Bevölkerungsschichten, die durch scheinbar entfesselte Globalisierung und Digitalisierung befeuert werden, entgegenzusetzen? Welche Antworten hat sie auf die Herausforderung gewaltiger weltweiter Migrationsbewegungen?
Im Grundsatz geht es um die Frage, ob die SPD nach links oder eher in die Mitte rücken muss, um zu überleben. Offene Debatten sind das Gebot der Stunde, doch gerade die jüngere Vergangenheit lehrt, wie groß die Gefahr einer öffentlichen Selbstzerfleischung ist. Nahles muss die GroKo-Kritiker in diesen Prozess einbinden, auch ihre Gegenkandidatin Simone Lange. Und Kevin Kühnert, denn: aus rebellischen Juso-Vorsitzenden können wichtige Stützen der Partei werden, dafür ist sie selbst ja das beste Beispiel. Nahles muss zuhören und häufiger als zuletzt das Gespräch mit ihren entfremdeten Anhängern suchen, deren Sorgen ernst nehmen und doch als Vorsitzende die Richtung vorgeben – der neuen Chefin steht eine Gratwanderung mit ständiger Absturzgefahr bevor.
Allein kann sie diese Mammutaufgaben nicht bewältigen. Für die SPD kommt es entscheidend darauf an, wie die Zusammenarbeit zwischen Nahles und Olaf Scholz funktioniert, die zusammen das Kraftzentrum der Partei bilden. Im Moment herrscht Harmonie, doch es ist eine Beziehung mit Sollbruchstelle. Denn Nahles und Scholz werden sich schon bald darauf verständigen müssen, wer von beiden bei der nächsten Bundestagswahl als Kanzlerkandidat(in) antritt – der Konflikt ist programmiert.
Auch auf Olaf Scholz kommt es an