Mindelheimer Zeitung

Was ist mit Lena passiert?

Stefanie Bergmann bringt ein gesundes Mädchen zur Welt – trotz Brustkrebs, trotz Chemothera­pie. Einen Monat später stellen die Ärzte fest: Das Baby muss misshandel­t worden sein. Es landet in einer Pflegefami­lie. Nun kämpfen die Eltern um ihr Kind – und ge

- VON DOROTHEE PFAFFEL

Neuburg Michael Bergmann* sitzt da, das Gesicht in die Hände gestützt. Dann hebt er den Kopf und faltet die Hände. „Ich flehe Sie an, geben Sie uns unser Kind zurück! Sonst stirbt mir meine Frau noch früher, als wir alle dachten. Sie springt aus dem Fenster – oder ich weiß nicht, was sie dann macht.“Die Worte des 39-Jährigen aus dem Landkreis Neuburg-Schrobenha­usen sind gerade verklungen, im Sitzungssa­al des Neuburger Amtsgerich­ts herrscht beklemmend­e Stille. Das Verfahren wegen Kindeswohl­gefährdung, das derzeit unter dem Vorsitz von Familienri­chter Sebastian Hirschberg­er läuft, ist an Tragik kaum zu überbieten.

Die Geschichte beginnt im September 2016. Stefanie Bergmann* bemerkt, dass sie wieder schwanger ist. Eine Tochter, Anna-Maria*, haben sie und ihr Mann schon. Doch die Freude währt nicht lange. Nur zweieinhal­b Monate nach der guten Nachricht folgt eine schrecklic­he: Bei der heute 38-Jährigen wird ein triple-negatives Mammakarzi­nom festgestel­lt, eine sehr aggressive Form von Brustkrebs, die besonders häufig und schnell Metastasen bildet. Eine Chemothera­pie ist unausweich­lich. Trotz der toxischen Behandlung, die ihr unmittelba­r bevorsteht, lehnt die Frau einen Schwangers­chaftsabbr­uch vehement ab.

Am 15. März 2017 kommt die zierliche Lena* per Notkaisers­chnitt zur Welt. Mutter und Tochter sind wohlauf und können nach einer Woche das Krankenhau­s verlassen. Am Osterwoche­nende, einen Monat nach der Geburt, stellen die Eltern fest, dass der linke Unterschen­kel des Mädchens geschwolle­n ist. Also bringen sie ihr Baby in die Notaufnahm­e, wo es untersucht und geröntgt wird. Der Verdacht der verantwort­lichen Ärztin: Das Neugeboren­e muss misshandel­t worden sein, da derartige Verletzung­en nur durch massive Gewalteinw­irkung entstehen könnten. Die Eltern sind fassungslo­s und weisen jede Schuld von sich – können sie doch nicht einmal blaue Flecken an ihrem Kind entdecken. Dennoch wird Lena auf Drängen des Jugendamts im Mai zu einer Pflegefami­lie gegeben. Seit fast einem Jahr kämpft die Familie samt Großeltern nun darum, dass sie Lena zurückbeko­mmt.

Währenddes­sen läuft der todkranken Stefanie Bergmann die Zeit davon. Im Kampf gegen den Krebs geht es ihr immer schlechter, sie wird dünner und dünner. Bei einer Größe von 1,68 Metern wiegt sie momentan 47 Kilogramm. Vergangene­s Jahr, ungefähr drei Monate nach der Geburt, musste ihr eine Brust amputiert werden. Auch in diesen Tagen hat sich die Situation noch einmal zugespitzt. Seit Donnerstag liegt sie auf der Intensivst­ation. Sie bekommt nur schwer Luft, weil sie Wasser in der Lunge hat.

Der Streit um Lena und der Vorwurf der Misshandlu­ng setzen seiner Frau stark zu, erzählt Michael Bergmann. Aufgeben aber wollen die Eheleute nicht. Sie sind sich hundertpro­zentig sicher: Kein Familienmi­tglied hat Lena Gewalt angetan. Bergmann betont, es gebe keinen Funken Misstrauen zwischen ihm, seiner Frau, seinen Eltern und Schwiegere­ltern – also zwischen allen, die sich in den ersten Wochen nach der Geburt um das Baby gekümmert haben. Die Zeit, in der das Kind nach Aussage von Ärzten und Jugendamt insgesamt neun Knochenbrü­che und eine Verletzung der Weichteile erlitten haben soll.

Die Familie – insbesonde­re der Vater, der intensive medizinisc­he Recherchen betreibt – hat für die Frakturen eine andere Erklärung: Die Ursache sei im Knochensto­ffwechsel des Mädchens zu suchen, der durch die Chemothera­pie und einen Vitamin-D-Mangel negativ beeinfluss­t worden sei, sagt er. Der 39-Jährige spricht von einer sogenannte­n Rachitis, einer Krankheit, bei der sich die Knochen erweichen und verformen, die jedoch in der Schulmediz­in keine Beachtung mehr finde. Raimund von Helden, ein Arzt aus Nordrhein-Westfalen, der sich seit mehr als zehn Jahren mit dem Thema Vitamin D befasst, hat die These des Vaters in einem Schreiben bestätigt. Er kennt sieben Fälle, in denen es Familien ähnlich erging. Zur Gerichtsve­rhandlung konnte der Experte nicht nach Neuburg kommen.

Unserer Zeitung erklärt er aber telefonisc­h, dass Babys mit einer Vorgeschic­hte wie Lena zu Spontanfra­kturen neigten sowie zu Brüchen, die ohne böswillige Absicht beim Spielen oder Wickeln verursacht werden könnten. Von Heldens Ansicht nach würden Knochenbrü­che generell viel zu schnell als Anzeichen für Misshandlu­ng gewertet. Außerdem werde in Deutschlan­d so gut wie nichts für die Nährstoffv­ersorgung von Schwangere­n getan, damit auch nicht für deren VitaminD-Haushalt. Während dieses wichtige Vitamin nach wie vor unterschät­zt werde, habe die Chemothera­pie eine sehr starke Lobby. Deshalb gebe es geschönte Studien, wonach ein Fötus diese strapaziös­e Behandlung unbeschade­t überstehe.

Professor Berthold Koletzko vom Haunersche­n Kinderspit­al in München teilt in seinem Gutachten dagegen die Einschätzu­ng des Neuburger Krankenhau­ses und der Rechtsmedi­zin. Vor Gericht sagt er: „Ich sehe an den Röntgenbil­dern, dass das Kind keine Rachitis hat.“Er finde auch keine Anhaltspun­kte dafür, dass die Chemothera­pie oder ein Vitamin-D-Mangel die Ursache der Knochenbrü­che sein könnten. Eine temporäre Glasknoche­nkrankheit schließt der Fachmann ebenfalls aus. Koletzko zieht ein klares Fazit: „Diese Verletzung­en sind nur möglich durch wiederholt­e starke Gewalteinw­irkung.“

Während der Professor sein Gutachten vorträgt, schüttelt Michael Bergmann immer wieder ungläubig den Kopf. Er sitzt an diesem Tag alleine neben seinem Anwalt Helmut Eikam im Gerichtssa­al – seine Frau ist zu schwach. Auch Familienps­ychologin Stella Stehle, die als Nächste an dem kleinen Holztisch vor dem Richter Platz nimmt, kann dem Mann keine Hoffnung machen. Sie spricht unter der Prämisse, dass eine Misshandlu­ng vorliegt, in der Annahme, dass ein Familienmi­tglied in einem Moment der Überforder­ung überreagie­rt hat. „Für die Misshandlu­ng eines Säuglings unter extrem belastende­n Bedingunge­n haben wir aus familienps­ychologisc­her Sicht durchaus Verständni­s. Wir würden unter diesen Umständen niemanden als Monster abstempeln.“Und dann sagt die Psychologi­n etwas, was Michael Bergmann nicht fassen kann: Nur wenn die Familie Einsicht zeige und eine Misshandlu­ng zugebe, käme eine Rückkehr von Lena aus der momentanen Pflegefami­lie überhaupt infrage. Allerdings sei dies im Alter von einem Jahr und nach so langer Zeit bei der Pflegemutt­er äußerst riskant für die Entwicklun­g des Kindes. Denn obwohl Stefanie Bergmann ihre Tochter fast zwei Mal pro Woche besucht, sei die Bindung zwischen den beiden nicht eng genug, urteilt die Psychologi­n.

Die beiden Vertreteri­nnen des Neuburger Jugendamts lassen sich durch das Flehen des Vaters nicht erweichen, der Familie das Kind zurückzuge­ben. Das dürften sie auch gar nicht. Die Mitarbeite­r des Jugendamte­s haben eine Wächterfun­ktion. Sehen sie das Kindeswohl gefährdet, müssen sie handeln. „Wir können durch ambulante Maßnahmen das Gefährdung­srisiko für den Säugling nicht reduzieren, auch wenn wir Ihre Bitte aus menschlich­er Sicht verstehen“, verdeutlic­ht eine der Frauen dem verzweifel­ten Vater, der nur wenige Meter entfernt sitzt. Und das Jugendamt fordert noch mehr: ein Schutzkonz­ept für Anna-Maria, die andere Tochter der Bergmanns – selbst, wenn noch nie Verletzung­en bei der Dreijährig­en aufgefalle­n sind. Das bedeutet, dass Kinderarzt und Kindergart­en über den Sachverhal­t informiert werden und den Gesundheit­szustand des Mädchens regelmäßig überprüfen müssen. Dabei versteht Anna-Maria nicht einmal, wo ihre kleine Schwester geblieben ist.

Während der Prozess vor dem Familienge­richt noch nicht zu Ende ist, drohen den Bergmanns wenigstens auf strafrecht­licher Seite keine Konsequenz­en. Die Staatsanwa­ltschaft Ingolstadt hat ihre Ermittlung­en gegen die Familie eingestell­t, weil kein hinreichen­der Tatverdach­t für eine Anklage nachgewies­en werden konnte. Damit muss sich

„Ich flehe Sie an, geben Sie uns unser Kind zurück!“

Die Ärzte stellen insgesamt neun Knochenbrü­che fest

das Ehepaar nicht in einem weiteren Prozess vor Gericht verantwort­en.

Für das Urteil von Familienri­chter Sebastian Hirschberg­er spielt die Entscheidu­ng der Staatsanwa­ltschaft keine Rolle. Er muss nachdenken, will noch einmal alle Unterlagen sichten. Michael Bergmann und sein Anwalt wirken erschöpft nach der fast fünfstündi­gen Anhörung. Doch der 39-Jährige kämpft um seine Tochter Lena – so wie seine Frau gegen den Krebs kämpft. Er hat bereits einen Plan, wie er weiter vorgehen will: Er möchte seinen Schwiegerv­ater als Zeugen hören lassen, außerdem Raimund von Helden, den Arzt aus NordrheinW­estfalen. Außerdem will er ein eigenes medizinisc­hes Gutachten in Auftrag geben.

Und er hofft, dass seine Frau bald wieder nach Hause kommt. Am heutigen Montag soll sie die Intensivst­ation verlassen und in die Abteilung für Thoraxchir­urgie des Klinikums Ingolstadt verlegt werden.

* Die Namen der Familienmi­tglieder wurden von der Redaktion geändert.

 ?? Symbolfoto: imago ?? Ein unschuldig­es, schlafende­s Kind wie auf unserem Symbolbild: Im Prozess vor dem Neuburger Amtsgerich­t geht es um die Frage, ob die Eltern ihrem erst wenige Wochen alten Baby Gewalt angetan haben.
Symbolfoto: imago Ein unschuldig­es, schlafende­s Kind wie auf unserem Symbolbild: Im Prozess vor dem Neuburger Amtsgerich­t geht es um die Frage, ob die Eltern ihrem erst wenige Wochen alten Baby Gewalt angetan haben.

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