Mindelheimer Zeitung

Zwischen Formelsamm­lung und Fitnessstu­dio

Freizeit und Lernen für das Abitur, das scheint unvereinba­r zu sein. Was Lehrer und Schüler darüber denken und was sich seit der Einführung des G8 verschlimm­ert hat

- VON LEONIE KÜTHMANN

Mindelheim Der Aufschrei war groß, als im Schuljahr 2004/2005 das G8 in Bayern eingeführt wurde. Besorgte Eltern fürchteten nicht nur, dass ihre Kinder vom erhöhten Lernstoff überforder­t seien, sondern auch, dass den Schülern jegliche Möglichkei­t auf freie Entfaltung außerhalb der Schule genommen würde. Hobbys zeitintens­iv betreiben, sich in Vereinen engagieren, Freundscha­ften pflegen, das schien mit Tagen voller Nachmittag­sunterrich­t und darauffolg­enden Hausaufgab­en unvereinba­r. Die Rückkehr zum G9 beschloss die bayerische Regierung im April 2017. Grund genug, einmal zu hinterfrag­en, ob die G8-Schüler der vergangene­n sieben Jahrgänge für ein gutes Abitur tatsächlic­h alles aufgeben mussten.

Sie ist eine von denen, für die es ab dem 2. Mai ernst wird: Jasmin Weinzierl wird wie 90 andere Abiturient­en am Mindelheim­er Maristenko­lleg und circa 100 Schüler am Joseph-Bernhart-Gymnasium in Türkheim an diesem Tag die erste schriftlic­he Abiturprüf­ung schreiben: Mathematik. Jasmin macht gerne Sport und spielt in einer Jugendband. Damit wegen der Abiturprüf­ungen aufhören? Das kommt für die 18-Jährige gar nicht infrage: „Ich habe keines meiner Hobbys aufgegeben“, betont die Mindelheim­erin. „Ich gehe immer noch zwei- bis dreimal die Woche ins Fitnessstu­dio und habe einmal in der Woche Bandprobe.“

Zeit dafür findet Jasmin nach der Schule oder am Wochenende. Auch dafür, dass sie ihre Freunde nicht vernachläs­sigen muss, hat die 18-Jährige eine gute Lösung gefunden: „Ich treffe mich zwar immer noch mit meinen Freunden am Wochenende – allerdings lernen wir dann oft zusammen.“

Ob zusammen oder allein, es wird fleißig gelernt. Dass die zukünftige­n Abiturient­en dafür ihre Hobbys aufgeben, den Eindruck haben die Oberstufen­koordinato­ren des Maristenko­llegs, Rainer Göppel und Gerhard Wegst, nicht. „Bisher wissen wir von keinem Schüler, der sein Hobby extra aufgegeben hat“, bestätigen die beiden Lehrer. „Zum Glück!“

Aber es gibt sie, diese Schüler, die für ein gutes Abitur ihre Freizeitbe­schäftigun­gen einschränk­en oder sogar aufgeben: Sonja Morhammer kommt aus Buchloe, geht aber in Mindelheim auf das Maristenko­lleg. Die angehende Abiturient­in ist leidenscha­ftliche Ballerina und hat elf Jahre lang Ballett getanzt. Bis ihr das Abi in die Quere kam: „Aufgehört habe ich zunächst einmal wegen des Stresses in der Oberstufe und der Abiturvorb­ereitung. Dank des G8s war ich an drei Nachmittag­en pro Woche bis 16.45 Uhr in der Schule. Da ich Fahrschüle­rin bin, war ich dann regelmäßig erst um 18 Uhr zuhause. Danach noch Hausaufgab­en und Lernen, da war nicht mehr viel Zeit und Energie übrig.“

Dass der Lernstoff „ein großer Berg“sei, der die Schüler sicher auch anfangs einschücht­ere, verstehen Rainer Göppel und Gerhard Wegst. Mit gutem Zeitmanage­ment sei das aber zu schaffen: „Wir geben schon zu Beginn und während der Qualifikat­ionsphase in gemeinsame­n Versammlun­gen Tipps zum Zeitmanage­ment“, erklärt Rainer Göppel. Zudem achten auch die einzelnen Lehrkräfte darauf, diesen Punkt auf die individuel­len Fächer bezogen anzusprech­en.

Letztlich seien die Prüfungen am Ende ja nicht das alleinige Abitur: „Wir machen den Schülern bewusst, dass mit dem ersten Tag der Q11 das ,Abitur’ beginnt“, stellt Gerhard Wegst klar. „Dann wissen die Schüler auch, dass sie kurz vor den Abiturprüf­ungen schon zwei Drittel geschafft haben.“Von allen Punkten, die in die Abiturnote zählen, sammeln die Schüler bereits zwei Drittel während der Q11 und der Q12. Das letzte Drittel sind dann die Abiturprüf­ungen.

Damit die Schüler neben dem Lernen die Möglichkei­t haben, auch Freizeitak­tivitäten fortzuführ­en, achte man am Maristenko­lleg darauf, den Stundenpla­n sinnvoll zu gestalten: „Wir haben beide Seminare, P-Seminar und W-Seminar, auf einen Nachmittag gelegt. Da diese Seminare ab dem Schuljahr 12/2 wegfallen, haben die Schüler einen freien Nachmittag“, erklären die Oberstufen­koordinato­ren und Gerhard Wegst ergänzt: „Den können die Schüler zur Vor- und Nachbereit­ung nutzen.“

Hobbys ja, Nebenjob eher nicht, raten die Oberstufen­koordinato­ren: „Die Schüler sollen sich natürlich nicht selbst überlasten“, betont Gerhard Wegst. „Wir raten ihnen deshalb, dass sie ihre Nebenjobs ein wenig zurückfahr­en.“Schließlic­h sei der Erholungse­ffekt nicht gegeben, wenn ein Schüler jeden Abend am Wochenende beispielsw­eise als Kellner arbeite.

Das G8 – eine höhere Belastung für die Schüler, die deshalb jegliche Freizeitge­staltung aufgeben müssen? Stimmt nicht, finden Gerhard Wegst und Rainer Göppel: „Das Abitur ist im G8 mindestens genauso aufwendig“, sagen beide. Nach sieben Jahren G8-Abitur können sie also mit Sicherheit sagen: „Die Abiturient­en müssen ihre Freizeit jetzt nicht stärker einschränk­en als zuvor.“

Sonja erzählt eine andere Geschichte: Früher hat sie viereinhal­b Stunden pro Woche Ballett gemacht – eine Freizeitbe­schäftigun­g, die jetzt nicht mehr möglich ist und die Sonja sehr fehlt: „Ich vermisse es sehr, wegen des Abiturs nicht mehr ins Ballett gehen zu können. Ich bin sehr traurig darüber, da es das einzige Hobby war, das ich exzessiv betrieben habe. Es ist auch schwer, einen Ausgleich zur Schule zu finden, wenn man seinem Lieblingsh­obby nicht mehr nachgehen kann.“

Ausgleich – ein Stichwort, das auch die Oberstufen­koordinato­ren anführen: Ihrer Ansicht nach sei es nicht sinnvoll, Hobbys wegen der Abiturprüf­ungen aufzugeben: „Ein Ausgleich, in welcher Form auch immer, ist für die Schüler wichtig. Ob das Sport, Ehrenamt oder Musik ist, ist letztlich egal, solange der Schüler Freizeit neben dem Lernen hat“, betont Rainer Göppel.

Die Freizeit reicht aber nicht für Hobbys, die exzessiv betrieben werden, die man fast schon profession­ell betreibt: Jahrelang hat Sonja an großen Aufführung­en und Projekten teilgenomm­en - dieses Jahr geht das nicht: „Die Anforderun­gen des Abiturs lassen mir nicht die Zeit zum Proben und Üben.“Die Chance, vor großem Publikum aufzutrete­n, künstleris­ch tätig zu sein, ist der guten Abiturnote geopfert worden.

Die Ansicht der beiden Pädagogen, dass das G8 für die Freizeitge­staltung der Schüler kein Problem darstelle, teilt Sonja nicht: „Ich denke, das G8 war ein großer Fehler, denn den Schülern geht in dieser, doch sehr wichtigen, Zeit viel verloren. Die Schüler stehen während des G8 unter massivem Zeitmangel und -druck. Hobbys neben der Schule zu haben, ist wichtig.“Nur zu pauken ist nicht alles, auch außerschul­ische Hobbys tragen zur Weiterbild­ung bei. Sonjas konkretes Beispiel: „Im Falle von Ballett, werden die Bereiche Sport und Kunst verbunden, was zur Schule einen perfekten Ausgleich schafft.“

Damit dieser Ausgleich wieder gegeben ist, hat die 17-Jährige einen Lösungsans­atz parat, den offenbar auch die bayerische Regierung gut findet: „Das G9 sollte wieder eingeführt und der Nachmittag­sunterrich­t auf ein Minimum reduziert werden.“Ob sich letztlich an der Freizeitge­staltung der Abiturient­en etwas ändert, wird sich im Frühjahr 2029 zeigen – dann werden die ersten „G9-Rückkehrer“, die im kommenden September ans Gymnasium übertreten, für das Abitur lernen.

Lehrer geben Tipps zum Zeitmanage­ment

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Foto: Felix Kästle/dpa Bald ist es auch für die Oberstufen­schüler in Mindelheim und Türkheim wieder soweit: Die Abiturprüf­ungen stehen an. Spätestens jetzt sollten die Vorbereitu­ngen auf Hoch touren laufen – dabei spielen Hobbys und Freizeit eine nicht unwichtige Rolle.
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Foto: Skyline Tanzstudio Sonja Morhammer, als sie noch Zeit zum Tanzen hatte.
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Jasmin Weinzierl

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