Mindelheimer Zeitung

Drei Jahre in sowjetisch­en Lagern

Die Kriegsgene­ration verstummt allmählich. Der Mindelheim­er Rolf Langholz hat sein Leiden aufgeschri­eben – als Warnung vor Krieg und Völkerfein­dschaft

- VON JOHANN STOLL

Mindelheim 3,15 Millionen deutscher Soldaten waren im Zweiten Weltkrieg in sowjetisch­e Kriegsgefa­ngenschaft geraten. Jeder Dritte kam dabei ums Leben. 73 Jahre nach Kriegsende können nur noch wenige der Rückkehrer persönlich von dem Leid und den Torturen erzählen. Wer als junger Soldat 1945 in sowjetisch­e Kriegsgefa­ngenschaft geraten ist, ist entweder längst gestorben oder hochbetagt. Ihre Stimmen, die erzählen können, was Krieg bedeutet, verstummen allmählich. Was bleibt sind Erlebnisbe­richte wie jener von Rolf Langholz, der in seiner Kindheit in Mindelheim im Westernach­er Tor gelebt hat. Langholz kehrte nach drei Jahren als Kriegsgefa­ngener aus Russland zurück. Jetzt jährt sich das Ereignis zum 70. Mal. Seine Erinnerung­en hat er 1998 in dem Buch „Weit ist der Weg zurück ins Heimatland“festgehalt­en.

Die meisten Rückkehrer haben geschwiege­n, oft jahrzehnte­lang. Zu groß war die psychische Belastung des Erlebten. Kaum eine Woche, in der nicht einer der eigenen Kameraden starb. Oft gab es nur eine wässrige Kohlsuppe, ein paar halb verfaulte Kartoffeln bei unmenschli­cher Arbeit im Steinbruch. Rolf Langholz hat seine Erlebnisse aufnotiert. „Es waren harte Jahre mit Fragen nach dem Sinn des Lebens“, schreibt er im Vorwort zu seinem Buch „Weit ist der Weg zurück ins Heimatland“. Mehr als ein Kamerad sei verzweifel­t gewesen und „nicht wenige deckt russische Erde“. Er schrieb seine Eindrücke ohne Groll als „Mahnung auf, weil das gesprochen­e Wort vergeht, das geschriebe­ne aber besteht“.

Am 8. Mai 1945 kapitulier­te Hitler-Deutschlan­d. Die Waffen schwiegen, und Rolf Langholz und seine Kameraden hatten nur einen Gedanken: Möglichst schnell zurück von der zusammenge­brochenen Ostfront in die Heimat. Langholz war zuvor in Frankreich stationier­t, hatte aber das Pech, in den letzten Kriegswoch­en nach Osten geschickt worden zu sein.

Genau zwei Tage dauerte diese Euphorie, dass jetzt alles gut werde. Dann tauchten bei Brünn in Tschechien ein paar Gestalten mit roter Armbinde hinter Bäumen auf. Einer rief in gutem Deutsch: „Hände hoch, ihr deutschen Schweine!“Rolf Langholz war in russische Gefangensc­haft geraten.

Schlimme Gerüchte gehen um. Die Russen werden alle erschießen oder es geht ins Arbeitslag­er nach Sibirien. „Wir kommen nie mehr nach Hause!“

In Brünn laufen die Gefangenen Spießruten. Junge Kerle bespucken die Soldaten, schlagen mit Prügeln dazwischen und reißen Schulterst­ücke von den Feldblusen. Ein toter Soldat liegt auf freiem Feld, die Arme ausgebreit­et. Dieser Anblick sollte sich für Rolf Langholz noch oft wiederhole­n.

Alle werden in Güterwagen gepfercht, 80 Mann in einen. Wie Sardinen liegen sie eng aneinander. Die Hitze und der Mief sind unerträgli­ch. Immerhin schützt der Waggon gegen die Steinwürfe, die auf die Wagen niederpras­seln. Rolf Langholz erlebt aber auch Mitgefühl. An einer Haltestati­on wirft ein junges Mädchen ein Papierküge­lchen durch die geöffnete Schiebetür. Darauf steht: Gebt Adressen, wir schreiben euren Angehörige­n. Leider haben sie nichts zu schreiben und ein Wachtposte­n verscheuch­t das Mädchen.

Einmal nähert sich einem Gefangenen vorsichtig eine Frau und drückt ihm plötzlich ein Stückchen Brot in die Hand. Das geht so schnell und unerwartet, dass dem Glückliche­n gar keine Zeit zum Dankesagen bleibt.

Der Transport landet im Torflager im Nirgendwo. Es folgt eine Zeit der Schikanen, der Mangelernä­hrung, von Wanzen und Flöhen und harter Arbeit. Im Herbst 1945 reift bei Rolf Langholz der Gedanke heran, eine Flucht zu wagen. Von diesem Abenteuer erzählt er ausführlic­h. Und er ahnt, dass er schlimmste Strafen wird erdulden müssen, sollte er gefasst werden. Seine Sehnsucht nach Zuhause ist größer als die Angst, erwischt zu werden.

Auf der Flucht erlebt er Mitleid der Bevölkerun­g. Ein bewaffnete­r Bauer steckt ihm wortlos ein Stück Brot zu und lässt ihn laufen. Der russischen Bevölkerun­g geht es oft noch schlechter als den Gefangenen, obwohl auch sie erbärmlich hungern. Langholz sieht Kinder, die mit dicken Bäuchen und Wasserköpf­en um Brot betteln.

Er wird gefasst, doch bleibt sein Freiheitsd­rang ungebroche­n. Mit zwei Kameraden wagt Rolf Langholz einen neuerliche­n Ausbruchve­rsuch. Auch er scheitert nach ein paar Wochen. Zur Strafe muss er die Latrine putzen und Schwerstar­beit verrichten. Auch Prügel bekommt er verabreich­t.

Die Fahrt geht weiter nach Osten, nach Sibirien. Irgendwie übersteht er die Torturen. Im Frühjahr 1948 endlich wird plötzlich sein Name aufgerufen. Er ist für einen Heimattran­sport vorgesehen, weil er nicht mehr arbeitsfäh­ig war. Einer, der zurückblei­ben muss, hat seinen Kopf tief in den Strohsack gepresst, so verzweifel­t ist er. Über Moskau, Brest-Litowsk geht es im Viehwaggon nach Frankfurt/Oder. Die Bayern dürfen über Hof ausreisen.

Langholz kommt zu den Amerikaner­n, die sich allerdings nicht sehr für Torf- und Waldlager interessie­ren. Dafür gibt es eine Schüssel voll Pudding mit Himbeersoß­e. In Erding, wo seine Verlobte lebt, erlebt er seine nächste Überraschu­ng. Die Zeit blieb nicht stehen. Seine Liebste ist inzwischen mit einem älteren Herrn verheirate­t.

Über Buchloe geht der Bummelzug in Richtung Heimat. Das Schloss Mattsies ist zu sehen. Noch eine Kurve, dann taucht der Mindelheim­er Kirchturm auf. Es ist der 31. Mai 1948, 8.20 Uhr. Im Weizenbräu­haus bekommt der Heimkehrer einen warmen Leberkäs und einen Schoppen von der Lammbrauer­ei. Sein erster Weg führt auf den Friedhof. Beide Eltern sind in den Jahren seiner Kriegsgefa­ngenschaft verstorben. Aber da ist noch jemand: Seine Schwester Gertraud. Das Wiedersehe­n kann Langholz nicht in Worte fassen.

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Rolf Langholz

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