„Nur simulierte Menschlichkeit“
Philosoph Julian Nida-Rümelin über Ethik der Digitalisierung
Memmingen Die fortschreitende Digitalisierung ist kein Monster, das die Weltherrschaft übernehmen wird. Sie ist aber auch nicht die Heilsbringerin in allen Lebenslagen. Das machte Professor Dr. Julian Nida-Rümelin beim Maiempfang der IHK-Regionalversammlung Memmingen-Unterallgäu und der IHK Bodensee-Oberschwaben deutlich: „Hysterische Reaktion auf neue Techniken waren schon immer falsch. Und zwar im positiven wie im negativen Sinne. Das hat die Geschichte der Industrialisierung gezeigt“, sagte Nida-Rümelin und riet den anwesenden Unternehmern bei der Veranstal- tung im BMWAutohaus Reisacher: „Machen Sie ihren Mitarbeitern beim Thema Digitalisierung keine Angst.“Vielmehr sollte man verdeutlichen, dass die Digitalisierung zum Erfolg des Unternehmens und letztlich zur Verbesserung des Lebens überhaupt beitragen könne.
Nida-Rümelin lehrt Philosophie und politische Theorie an der Münchner Ludwig-MaximilianUniversität und war Kultur-Staatsminister im ersten Kabinett Schröder. In Memmingen beleuchtete er die Digitalisierung in erster Linie unter ethischen Aspekten. Dabei ging der 63-jährige Philosoph auf folgende vier Punkte genauer ein: ● Digitalisierung und Ökonomie Erfahrungen in den vergangenen 20 Jahren hätten gezeigt, dass es durch die Digitalisierung nur einen geringen Produktionszuwachs gegeben habe. Daher seien Befürchtungen, dass durch den Einsatz von computergesteuerten Maschinen einmal 80 Prozent der heutigen Arbeitsplätze verloren gehen, vollkommen unbegründet. Vielmehr gebe es gerade in Deutschland ideale Voraussetzungen dafür, um mit Hil- fe der Digitalisierung das verarbeitende Gewerbe noch mehr zu stärken. Stichwort: Industrie 4.0.
● Digitalisierung und Bildung Bei diesem Punkt strich Nida-Rümelin heraus, dass das Internet raschen Zugriff auf Informationen aller Art erlaubt. Gleichzeitig forderte er aber: „Wir müssen Schülern wieder mehr Zeit zum selbstständigen Denken geben.“Denn nur so könnten sie eine eigenständige Urteilskraft entwickeln.
● Digitalisierung und Kommunikati on Umso mehr Distanz beziehungsweise Anonymität zwischen Gesprächspartnern besteht – etwa via E-Mail oder Messenger-Diensten – umso mehr wird laut dem Referenten gelogen. Andererseits biete das Internet für jeden die Möglichkeit, Wissen zum Vorteil aller schnell und einfach zu teilen. Letztlich bestehe mit Blick auf die Kommunikation eine Zwiespältigkeit: So könne etwa der Austausch zwischen Politikern und Bürgern durch digitale Kanäle verbessert werden. Demgegenüber könne das Internet aber auch dazu instrumentalisiert werden, um Bürger zu kontrollieren und letztlich zu entmündigen.
● Digitalisierung und Philosophie Bei der Verwendung von sogenannten Assistenten wie Siri oder Alexa müsse man sich immer vor Augen halten, dass es sich dabei um keine echten Personen handelt, die selbst Entscheidungen treffen können oder gar eine Seele haben. „Es handelt sich immer nur um die Simulation menschlichen Verhaltens und Denkens“, sagte Nida-Rümelin und betonte: „Wir werden keine elektronischen Personen erschaffen, die wirkliche Interaktionspartner sind.“Dies anzustreben, wäre der falsche Weg.
Anschließend stellte Maxi Weiss von den hiesigen Wirtschaftsjunioren dem Gastredner und dem Vorsitzenden der heimischen IHK-Regionalversammlung, Gerhard Pfeifer, noch Fragen zum Thema „Ethik der Digitalisierung“. Dabei kritisierten beide, dass die Politik es den großen Internetkonzernen überlasse, die Infrastruktur für die Digitalisierung bereitzustellen.
Auch das enorme Sammeln von persönlichen Daten in sozialen Netzwerken wie Facebook und deren missbräuchliche Verwendung wurden beklagt. Hier ist nach NidaRümelins Worten die Politik gefragt: „Es gibt bereits genügend gesetzliche Normen, sie werden nur nicht ausreichend durchgesetzt.“
Auf dem Podium kündigte Gerhard Pfeifer zudem an, dass er bei den diesjährigen IHK-Neuwahlen nicht mehr für den Vorsitz der Regionalversammlung kandidieren wird. „Es ist Zeit für einen Generationswechsel“, sagte Pfeifer.