Mindelheimer Zeitung

Von der Einsamkeit der ersten Alpinisten zum Milliarden­geschäft mit Touristen

Es war einmal eine kleine Schar Alpinisten, die auf bayerische Gipfel stieg und sich der Einsamkeit der Natur hingab. Einsam ist es heute in den Alpen kaum mehr. Eine Geschichte über ein Milliarden­geschäft, jammernde Touristen und Stau am Berg

- VON STEPHANIE SARTOR

Kempten Beginnen wir bei Marie. Königin von Bayern. Ihrem Miesbacher Stopselhut. Den ledernen Schnürstie­feln. Der Lodenhose. Und dem skandalös kurzen, dunkelblau­en Kleid, das nur bis zu den Knöcheln reicht. So wandert die Königin damals, Mitte des 19. Jahrhunder­ts, durch ihre geliebten Berge, kraxelt auf Gipfel, wagemutig und schwindelf­rei, pflückt Edelweiß, atmet die frische, klare Bergluft. Was sie damals noch nicht weiß: Sie wird nicht nur als Mutter des Märchenkön­igs Ludwig II. in die Geschichte eingehen, sondern auch als Pionierin des bayerische­n Alpinismus. Als eine, der mehrere Berge von Schwangau bis nach Berchtesga­den ihre Gipfelkreu­ze zu verdanken haben. Seit damals aber, als die zierliche Frau mit den schwarzen Haaren und den blauen Augen durch die Alpen wanderte, hat sich viel verändert.

Aus einer kleinen Bergsteige­rSchar, die sich der Einsamkeit der Berge hingab, ist inzwischen eine Massenbewe­gung geworden. Vor allem, seit immer mehr Seilbahnen gebaut wurden. Etwa die KreuzeckPe­ndelbahn, die 1926 fertiggest­ellt wurde und als erste Seilschweb­ebahn der deutschen Alpen gilt. Die Berge wurden so für immer mehr Menschen zugänglich. Aus dem stillen Abenteuer von einst wurde eines für jedermann. Und aus Bayern und seinen Bergen – immer schon ein Mythos, eine romantisch­e Sehnsucht – ist eine Marke geworden, die Jahr für Jahr Millionen Menschen anzieht.

Und der Enthusiasm­us bricht nicht ab. Die Besucherza­hlen steigen von Jahr zu Jahr: Allein zwischen 2003 und 2017 gab es in Bayern bei den Touristena­nkünften einen Zuwachs um 62 Prozent. Im selben Zeitraum erreichte das Allgäu sogar ein Plus von 95 Prozent – auf 3,8 Millionen Ankünfte im vergangene­n Jahr. Das zeigen Zahlen der Allgäu GmbH, der Dachorgani­sation für den Allgäu-Tourismus. Und es ist ein gewaltiges Geschäft, das hinter diesen Zahlen steckt: 2017 wurden im Allgäu 12,9 Millionen Gästeübern­achtungen gezählt. Etwa 101 Euro gibt ein Übernachtu­ngsgast pro Tag aus – so wurden 1,3 Milliarden Euro eingenomme­n. 32 Millionen mehr als noch ein Jahr zuvor. Hinzu kommen Millionen Tagesgäste, von denen jeder etwa 30 Euro am Tag dalässt.

Der Gipfel des Burgberger Hörnles, etwa eine halbe Stunde von Kempten entfernt, ist an diesem grauen Maitag in Wolken gehüllt. Sie sehen aus wie Zuckerwatt­e, hängen so tief, dass die Baumkronen darin zu verschwind­en scheinen. Walter Hölzler, Bergsteige­r und Bergführer, sitzt in einem kleinen Café am Fuße des Berges, vor sich ein Glas Apfelschor­le. Trotz der kühlen Temperatur­en trägt er nur ein T-Shirt. Hölzler – drahtig, freundlich­es Lächeln, fester Händedruck – ist ja auch wesentlich kälteres Wetter gewohnt. Bis zu minus 30 Grad hat er erlebt, als er in Asien auf die Achttausen­der geklettert ist.

Wenn er nicht gerade am anderen Ende der Welt unterwegs ist, führt er Wanderer durch die Allgäuer Alpen. Und auch er sagt: In den Bergen wird es immer voller. „Momentan findet ein Boom statt, der nicht zu bremsen ist.“Hölzler glaubt, dass das zum einen daran liegt, dass es den Menschen wirtschaft­lich gut geht – aber statt nach Ägypten würden viele lieber ins sichere Allgäu fahren. „Außerdem entsteht bei vielen Menschen immer mehr ein Gesundheit­sgedanke. Man achtet auf gesundes Essen und auf viel Bewegung.“Das hat zur Folge, dass es auf einigen Wanderwege­n langsam eng wird. „An manchen Modeber- ist es nicht anders als in einem überfüllte­n Freibad.“Etwa auf dem Kletterste­ig durch das Höllental. Rund 800 Menschen seien da am Tag manchmal unterwegs. „Da stehen die Leute Schlange, ein bisschen wie im Hochseilga­rten.“Und unten im Tal kriege man keine Parkplätze mehr, müsse lange an den Bergbahnen anstehen.

„Die vielen Menschen nehmen einem die Leidenscha­ft für das ursprüngli­che Bergerlebn­is“, sagt Hölzler und schaut durch die Fenster des Cafés nach draußen, in die Weite des Illertales. Bei schönem Wetter kann man von hier das Nebelhorn sehen, den Krottenkop­f, die Mädelegabe­l und die Trettachsp­itze. Hölzler hält kurz inne, dann sagt er: „Das ist ein zweischnei­diges Schwert. Es ist viel los in den Bergen, aber wir leben auch davon.“

Angesichts des boomenden Tourismus sind viele Naturschüt­zer in Sorge. Die Belastungs­grenze der bayerische­n Alpen sei überschrit­ten, warnt der Bund Naturschut­z. „Es ist ja positiv, wenn viele Menschen in die Natur gehen. Aber der Alpenraum ist besonders sensibel“, sagt der Landesvors­itzende Richard Mergner. In den Höhenlagen gebe es nur in wenigen Monaten Vegetation, außerdem lebten in den Bergen viele empfindlic­he Tierarten. „Wir brauchen einen naturnahen, sanften Tourismus“, sagt Mergner. Vor allem im Winter sei aber das Gegenteil der Fall. „Da geht es in die falsche Richtung. Mit Millionen wird der gefördert, in Regionen, die von der Klimaerwär­mung bedroht sind.“Mergner spricht damit die intensive Beschneiun­g mit Schneekano­nen an. Das Problem dabei: Die Vegetation­sdecke verändert sich, riesige Mengen an Wasser und Energie werden verbraucht und die Saisonzeit­en für den Winterspor­t ausgeweite­t. Aber auch im Sommer gibt es Mergner zufolge Nachholbed­arf. Er wünscht sich Lenkungsko­nzepte für die Touristens­tröme, damit sensible Bereiche besser geschützt wergen den. „Denn an schönen Tagen sind so viele Leute in den Bergen, dass es kaum mehr verträglic­h ist.“

Nicht nur die Touristenz­ahlen haben sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n verändert. Sondern auch die Menschen selbst. „Der Gast kommt öfter, bleibt aber kürzer“, sagt Simone Zehnpfenni­g von der Allgäu GmbH. „Die Leute machen mehr Kurztrips, fahren übers Wochenende weg, nutzen Brückentag­e.“60 Prozent der Gäste kämen im Sommer, 40 Prozent im Winter. Und: Der Trend gehe zum „multiWinte­rtourismus optionalen Gast“. Das heißt: Der Radler kommt zum Fahrradfah­ren in die Berge, am Abend aber will er ein Hotel mit einem guten Restaurant und einem schicken Wellnessbe­reich.

Dass sich die Alpentouri­sten immer mehr Komfort wünschen, hat auch Ernst Wagner bemerkt. 28 Jahre lang war er der Wirt der Kemptner Hütte, mittendrin in der Allgäuer Bergwelt auf 1846 Metern Höhe. Die Hütte selbst ist ein Stück Alpinismus­geschichte. 1891 wurde sie gebaut, war seither Lager für Wanderer und Kletterer, willkommen­e Rast nach dem etwa vierstündi­gen, kräftezehr­enden Aufstieg von Oberstdorf. Das Schutzhaus gehört der Sektion Allgäu-Kempten des Deutschen Alpenverei­ns, dem größten Bergsportv­erband der Welt. 1869 wurde der Verein gegründet – heute zählt er mehr als 1,2 Millionen Mitglieder. Und auch hier spürt man den Berg-Boom: Allein im Jahr 2017 ist die Mitglieder­zahl um 4,5 Prozent gestiegen. Wagner sitzt am Esstisch in seinem Haus in Durach bei Kempten. Durch ein großes Fenster schimmert mattes Frühlingsl­icht, die Nagelfluhk­ette, die man von

hier eigentlich sehen kann, ist an diesem diesig-wolkigen Tag nur zu erahnen, so als hätte jemand ein unscharfes Foto geschossen. Wagner, ein freundlich­er Mann, Karohemd, kurzes graues Haar, faltet die Hände vor sich auf dem Tisch und sagt: „Es hat sich über die vergangene­n Jahrzehnte wahnsinnig viel verändert.“Er hält kurz inne, dann beginnt er zu erzählen. „Die Leute wollen heute alle heißes Wasser. Als ob das das Wichtigste wäre. Es riecht doch auf der Hütte jeder gleich. Und nach drei Tagen freut man sich dann auf eine Dusche daheim“, sagt er. „Früher hat sich da niemand beschwert.“

Wagner steht auf, geht ins Wohnzimmer, das mit seinen Holzbalken fast wie eine Berghütte aussieht. Auf einer kleinen Empore sind alte Holzski und verschliss­ene Wanderschu­he zu sehen, auf den Kissen der Kachelofen­bank sind Kühe abgebildet. Ein bisschen braucht er das eben, diese heimelige Berggemütl­ichkeit, in der er so viele Jahre gelebt hat. 1973 hat er die Kemptner Hütte übernommen, bis zum Jahr 2000 verbrachte er alle Sommer dort. Nun tritt seine Tochter in seine Fußstapfen.

Elvi Wagner, die mit ihrem Mann Jahrzehnte auf der Hütte gelebt hat, kommt dazu. Sie trägt eine blaue Strickwest­e und ein grünes Halstuch, setzt sich auf die Eckbank, auf der ein gerüschtes Kissen mit der Aufschrift „Hock di na“liegt. Auch sie sagt, dass vieles anders geworden ist, droben, auf dem Berg. „Für die Leute ist es heute ganz schlimm, dass es auf der Hütte keinen HandyEmpfa­ng gibt“, sagt sie. Deswegen laufen die Touristen noch am späten Abend etwa zehn Minuten zu einem Platz, wo es ein Signal gibt. „Die Leute haben da einen richtigen Trampelpfa­d angelegt, seit es sich rumgesproc­hen hat, dass es dort Netz gibt“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Ohne Empfang geht für die die Welt unter.“

Gemütlich sei das alles nicht mehr, findet Ernst Wagner. Er schaut aus dem Fenster, auf das Alpenpanor­ama, die schneebede­ckten Gipfel, an denen die Wolken kleben. Dann schüttelt er kurz den Kopf, so als würde er ein bisschen wehmütig an früher denken. „Und gesungen wird heut auch nicht mehr“, sagt er dann. Stattdesse­n sorgen sich die Hüttengäst­e eher darum, ob sie am Abend nach dem Duschen ihre Haare föhnen könnten. „Aber wenn das fünf Leute gleichzeit­ig machen, reicht der Strom nicht und es wird dunkel in der Hütte.“

Wie sehr sich das Bergsteige­n verändert hat, das zeigt auch das Alpinmuseu­m in Kempten. Die Ausstellun­g erzählt von mutigen Pionieren, von Extremspor­tlern, von Gipfelbest­eigungen und Rekorden. In den Vitrinen sind alte Eispickel, Bohrmeißel, Haken und Karabiner, eine Expedition­sausrüstun­g aus den 1970er Jahren, mit Benzinkoch­er, Isomatte und Daunenschl­afsack, zu sehen. Ein paar Schritte weiter gibt es einen Auszug aus einem Tagebuch von Hans Pausinger, Bergsteige­r im frühen 20. Jahrhunder­t. Ein paar Sätze, die die Faszinatio­n, die die Berge seit jeher auf die Menschen ausübten, ein bisschen erklären: „Allein im Gebirge, nachdenken, empfinden – das Erlebte, Empfundene aufzeichne­n“, ist dort zu lesen. Auch heute sehnen wir uns noch nach diesem Gefühl – obwohl, oder gerade weil, das Alleinsein inzwischen vielerorts selten geworden ist.

Und dann gibt es im Museum noch die alten Wildleders­chuhe, getragen von Francesco Jori, Bergführer und Freiklette­rer. 1921 gelang ihm die Erstbegehu­ng der 1500 Meter hohen Agnèr-Nordwand in den Dolomiten – mit diesen Schuhen. Ein bisschen erinnern sie an die Schuhe, die derzeit in der Bayerische­n Landesauss­tellung in Kloster Ettal zu sehen sind. Sie gehörten Königin Marie von Bayern. Der Frau, die mit Stopselhut und knöchellan­gem Kleid durch die Berge wanderte und auf Gipfel stieg. Der Frau, mit der alles begann.

 ?? Foto: Andreas Gebert, dpa ?? Ein wahres Hochgefühl: Bei schönem Wetter oben auf dem Gipfel sitzen und Brotzeit machen – für Bergfans gibt es kaum etwas Schöneres. Und die Zahl derer, die hoch hinaus wollen, wird immer größer.
Foto: Andreas Gebert, dpa Ein wahres Hochgefühl: Bei schönem Wetter oben auf dem Gipfel sitzen und Brotzeit machen – für Bergfans gibt es kaum etwas Schöneres. Und die Zahl derer, die hoch hinaus wollen, wird immer größer.
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28 Jahre verbrachte­n Ernst und Elvi Wagner jeden Sommer auf der Kemptner Hütte. Ihr Haus in Durach hat auch ein wenig Hüttenchar­akter.
 ?? Fotos (2): Ralf Lienert ?? Walter Hölzler führt Touristen durch die Allgäuer Berge. Er sagt: An manchen „Mo debergen“wird es immer voller.
Fotos (2): Ralf Lienert Walter Hölzler führt Touristen durch die Allgäuer Berge. Er sagt: An manchen „Mo debergen“wird es immer voller.
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Foto: Haus der Bayerische­n Geschichte Bergschuhe von Königin Marie von Bayern.
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