Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (39)
Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbruder nennt. Er kommt aus dem Schlamassel, aus seinen Verhältnissen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomisch. ©Pr
Es geht schon einigermaßen, er vertippt sich noch ein bißchen viel, aber das rutscht so durch unter den vielen hundert Adressen. Alle paar Stunden kommt Herr Mergenthal, notiert, was fertig ist, bündelt es und trägt es hinaus.
Kufalt kann von seinem Platz aus Beerboom nicht sehen, aber in den Pausen, in denen er die neue Adresse in der Liste sucht, hört er ihn rascheln. Beerboom hat heute wieder einen schlimmen Tag, dreimal schon ist er aufgesprungen und wollte aus der Schreibstube fortlaufen. Er hört ständig Bertholds Stimme. Mergenthal hat ihn dann abgefangen und ihn mit Zureden und Schieben auf seinen Platz zurückgeführt. Aber auch heute wird Beerboom keine tausend Adressen schreiben, seine Leistung wird von Tag zu Tag niedriger.
Nun kommt Seidenzopf ins Büro und ruft Kufalt. Der erhebt sich mit Wut. Sicher hat er nicht schön genug gebohnert, er hat es eilig gehabt wieder an die Arbeit zu kommen.
Aber diesmal ist es nicht das Bohnern. „Herr Pastor Marcetus möchte Sie sprechen. Gehen Sie dort hinein.“
Kufalt klopft, eine Stimme ruft ,Herein‘, und er tritt ein.
Hinter dem Schreibtisch sitzt in vollem Licht ein großer, schwerer Mann mit schönem, weißem Haar, einem blühenden Gesicht, die Nase ist fleischig, die Mundpartie sehr ausgebildet, kein Bart. Weiße, große Hände.
An der Schmalseite des Schreibtisches sitzt eine Dame mit Stenogrammblock, neben ihr die Schreibmaschine. Vor dem Tisch steht einladend für die Besucher ein großer Stuhl, aber Kufalt wird nicht aufgefordert, sich zu setzen.
Der Pastor blättert in Papieren, Kufalt kennt dies Konvolut, er erkennt es wieder, es ist ihm nachgereist, es ist sein Aktenstück aus dem Zentralgefängnis.
Der Pastor läßt sich Zeit. Kufalts ,Guten Morgen‘ hat er mit einem kurzen Brummen erwidert.
Nun schlägt er eine Seite in dem Aktenstück auf und sagt, ohne hochzusehen: „Sie heißen Willi, das heißt Wilhelm Kufalt, von Beruf Buchhalter, mit fünf Jahren Gefängnis wegen Unterschlagung und schwerer Urkundenfälschung bestraft…“
„Ja“, sagt Kufalt.
„Sie sind aus guter Familie. Wie kamen Sie dazu? Weiber? Suff? Spiel?“
Es ist ein kalter, geschäftsmäßiger Ton, in dem zu Kufalt geredet wird. Kufalt kennt diesen Ton. Der Mann da am Schreibtisch hat ihn nicht eine Sekunde angesehen, er braucht den Mann Kufalt nicht anzusehen, er hat das Aktenstück Kufalt.
Der kennt den Ton, der kennt das Echo auch, er zittert am ganzen Leibe, es ist die alte Welt, sie sollte versunken sein, es sind die Jahre, es sind fünf Jahre, es geht so weiter. Soll es immer so weitergehen?
Die Seidenzöpfe mögen mit ihm reden, wie sie wollen, die Beerbooms, wie sie wollen – aber der hier, der müßte es besser wissen, der darf nicht. Der darf nicht!
Der Mann Kufalt zittert am ganzen Leibe, er fühlt, wie sein Gesicht weiß und kalt geworden ist, aber er fragt im gleichen Ton wie der Pastor: „Muß in Gegenwart der Dame verhandelt werden?“
Pastor Marcetus sieht zum ersten Male hoch. Er hat einen langsamen, gleichgültigen Blick, der sich festsetzt auf Kufalts Gesicht.
„Fräulein Matzke ist meine Sekretärin. Durch ihre Hände geht alles. Sie weiß alles.“
„Ist die Dame vereidigt?“„Was heißt das? Sind Sie hier, um zu fragen? Die Dame ist meine Angestellte.“
„Ich frage darum, weil ich nicht weiß, ob Privatpersonen meine Strafakten lesen dürfen.“
„Fräulein Matzke ist vollständig zuverlässig.“
„Trotzdem. Ich weiß nicht, ob es gesetzlich zulässig ist.“
„Sie sehen, Ihre Gefängnisverwaltung hat mir Ihre Akten zugeschickt.“
„Ja, Ihnen. Die Dame ist vorbestraft?“Der Mann hinter dem Schreibtisch macht einen Ruck. „Bürschchen…“, sagt er.
„Ich frage darum: wenn es eine Kollegin wäre, wäre es nicht so schlimm.“
Einen Augenblick ist Stille. Dann sagt der Pastor: „Also, bitte, Fräulein Matzke, warten Sie draußen.“
Die Dame entschwindet, Kufalt steht mit gesenktem Kopf vor dem Schreibtisch.
„Der Bericht Ihres Anstaltsgeistlichen lautet nicht günstig über Sie.“
„Nein“, antwortet Kufalt. „Ich will nämlich aus der Kirche austreten.“
„Das hat damit gar nichts zu tun.“
„Vielleicht doch.“
Pastor Marcetus setzt von neuem an: „Auch was Herr Seidenzopf mir über Ihre Führung und Leistung sagt, klingt nicht sehr ermutigend.“
„Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.“
„Sie brauchen ständig Widerworte.“
„Ständig? Ich habe einmal dagegen protestiert, einen ganzen Tag ohne Lohn zu arbeiten.“
„In Ihrer Lage ist man demütig.“„Bei Demütigungen ist es nicht schwer, demütig zu sein.“
„Sie können nichts. Ihre Handschrift ist miserabel…“
„Ich war kein Schreiber.“„Auch auf der Schreibmaschine fehlt viel. Sie vertippen sich ständig und schaffen nichts.“
„Man muß sich nach der langen Haft auch wieder einarbeiten.“
„Das sind Ausreden. Maschinenschreiben verlernt man nicht, man ist in zwei Stunden wieder im Gang.“
„Nicht, wenn man die Nachwirkungen von fünf Jahren Haft verspürt.“
„Die meisten Gefangenen sind Stümper in ihrem Beruf. Deswegen sind sie in der Welt nicht vorwärtsgekommen und auf den falschen Weg geraten.“
„Vielleicht sehen sich Herr Pastor einmal meine Zeugnisse an.“
„Wozu? Ich sehe Ihre Leistungen. Wirkliche Qualitätsarbeit findet man nur unter den Affektverbrechern. Wer wegen Eigentumsvergehens bestraft ist, konnte nichts. Tüchtige Arbeit findet in der Freiheit immer ihren Lohn.“
„Fünf Millionen Arbeitslose beweisen das.“
Rede und Gegenrede sind sich immer schneller gefolgt. Der fleischige Pastor hat nicht mehr seine milden fröhlichen Farben, er ist dunkelrot angelaufen. Kufalts Gesicht ist fahl, es zuckt und zerrt. Nach einer Pause des Atemholens sagt der Pastor böse: „Ich überlege eben, ob ich Sie nicht am besten sofort der Polizei übergebe …“
Kufalt sagt wütend: „Bitte! Tun Sie es doch! Das Ganze nennt man Entlassenenfürsorge.“
Aber in ihm warnt etwas: das sagt der nicht nur so, der hat was auf dem Kieker. Was hab’ ich denn ausgefressen? Nichts. Aber – dumm ist der nicht.
Der Pastor sagt: „In den sechs Stunden von Ihrer Entlassung bis zu Ihrem Eintreffen hier haben Sie sich bereits eines Eigentumsvergehens schuldig gemacht.“