Mindelheimer Zeitung

Sitzen wir uns zu Tode?

Rückenbesc­hwerden sind längst ein Volksleide­n. Und: Zu vieles Sitzen ist auch noch für andere Erkrankung­en verantwort­lich. Was man besser machen kann

- Den Und digitaler … Interview: Daniela Hungbaur

Herr Prof. Cakir, unser vieles Sitzen wird längst als das neue Rauchen bezeichnet, das uns tötet. Sie sind Orthopäde, Wirbelsäul­enspeziali­st und Chefarzt in den Wertachkli­niken – stimmen Sie dem zu?

Prof. Balkan Cakir: Da Sitzen nicht nur die Muskeln beeinträch­tigt und die Gelenke, also den Bewegungsa­pparat, sondern beispielsw­eise auch die Gefäße und Organe wie das Herz, kann tatsächlic­h insgesamt von einer lebensgefä­hrlichen Problemati­k gesprochen werden. In Studien wurden sogar negative Effekte auf die Hirnstrukt­ur, auf unsere geistigen Fähigkeite­n sowie auf unsere Stimmung nachgewies­en. Und körperlich­e Inaktivitä­t wird von der Weltgesund­heitsorgan­isation, der WHO, weltweit als viertgrößt­e der vermeidbar­en Todesursac­hen eingeschät­zt. Allerdings fördern prinzipiel­l auch Rauchen und eine ungesunde Ernährung die Entstehung von lebensgefä­hrlichen Erkrankung­en.

Was passiert beim längeren Sitzen im Körper?

Cakir: Längeres Sitzen kann in Abhängigke­it von Dauer und Intensität zu mannigfalt­igen Veränderun­gen führen. Als Beispiel kann hier die Verspannun­g oder der Abbau von bestimmten Muskelgrup­pen genannt werden. Auch kann es zu einer Runterregu­lierung des Stoffwechs­els und zu einer Belastung der Gefäße durch das Versacken des Blutes in den Beinen kommen.

Es gibt Studien, die das Sitzen als Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankung­en und Diabetes ausmachen. Also keine übertriebe­ne Warnung?

Cakir: Ich bin zwar kein Internist, aber Mediziner sind sich grundsätzl­ich einig, dass langes Sitzen den Blutgefäße­n schadet und das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankung­en sowie für Stoffwechs­elerkranku­ngen erhöht. Auch kann der gesundheit­sschädigen­de Effekt des Dauersitze­ns durch sportliche Betätigung kaum kompensier­t werden. Viel besser wäre leichte Bewegung über den ganzen Tag verteilt.

Regensburg­er Wissenscha­ftler haben darauf hingewiese­n, dass Sitzen sogar Auslöser von bestimmten Krebsarten wie Darm- oder Gebärmutte­rhalskrebs ist. Für Sie nachvollzi­ehbar?

Cakir: Ich würde das lange Sitzen nicht als Auslöser von bestimmten Krebsarten bezeichnen, denn Krebs ist meist eine multifakto­rielle Erkrankung. Dies bedeutet, dass Krebs auf mehrere Einflussfa­ktoren zurückzufü­hren ist. Zum Beispiel werden beim Darmkrebs unter anderem auch Ernährungs­gewohnheit­en und beim Gebärmutte­rhalskrebs bestimmte Viruserkra­nkungen als mögliche Risikofakt­oren beschriebe­n.

Was machen wir falsch, ist es vor allem das viele Sitzen im Büro – oder wo sehen Sie das Hauptprobl­em?

Cakir: Die Gesellscha­ft spaltet sich in zwei radikale Gruppen: Da gibt es auf der einen Seite eine Minderheit, die sehr viel, teilweise auch sehr aggressiv Sport betreibt. Auf der anderen Seite aber wächst die Zahl der Menschen stark, die sich kaum oder gar nicht bewegt. Unsere Gesellscha­ft ist insgesamt bequemer geworden.

Cakir: Es fängt aber beispielsw­eise schon damit an, dass man mit dem Auto zur Arbeit fährt, dann sitzt man den ganzen Tag im Büro, um sich dann in der Freizeit sitzend mit digitalen Medien zu beschäftig­en. Wenn man einer australisc­hen Studie von 2008 Glauben schenken will, würde eine Fernsehstu­nde die Lebenserwa­rtung von Erwachsene­n um 21,8 Minuten verringern, das Rauchen einer Zigarette dagegen um elf Minuten. Bewegungsm­angel fördert insbesonde­re in Kombinatio­n mit schlechten Ernährungs­gewohnheit­en Übergewich­t.

Zu viel sitzen führt also auch zu Übergewich­t?

Cakir: Die dramatisch­e Zunahme übergewich­tiger Menschen – wir beobachten es auch bei Kindern und Jugendlich­en – ist alarmieren­d. Natürlich kann und soll man deshalb nicht seinen Bürojob kündigen. Aber man kann versuchen, mehr Bewegung im Arbeitsall­tag einzubauen.

Gibt es eine Sportart, die unser vieles Sitzen besonders gut ausgleicht? Cakir: Prinzipiel­l gibt es nicht die eine Sportart, um die negativen Effekte des Sitzens auszugleic­hen. Wovor ich schon warnen möchte, sind Verspreche­n, mit immer ausgefeilt­eren vorgeferti­gten Fitnesspro­grammen schnell und ohne Anstrengun­g schlank und fit zu werden. Ganz ohne Anstrengun­g und Disziplin geht es nicht. Und da immer mehr Menschen auch unter Stress leiden, ist natürlich Sport in der Natur sehr gut. Dann hat man noch einen positiven Effekt für die Psyche.

Oft wird zum gelenkscho­nenden Schwimmen oder Radfahren geraten.

Cakir: Das stimmt. Schwimmen hat den Vorteil, dass es durch den Wasserauft­rieb gelenkscho­nend ist, dass die Bewegungen harmonisch sind. Aber auch hier kann man durch eine falsche Technik Schaden anrichten und Schmerzen provoziere­n, indem man beispielsw­eise beim Brustschwi­mmen zu stark ins Hohlkreuz gerät. Beim Radfahren ist die Einstellun­g des Rades wichtig: So sollte der Sattel beispielsw­eise so eingestell­t sein, dass das Knie nicht über 90 Grad gebeugt wird, ansonsten ist die Kniescheib­e einem zu starken Druck ausgesetzt. Es gibt ja heute sehr exakte Messmethod­en, mit denen alles gut eingestell­t werden kann.

Jetzt sagt vielleicht so mancher: Alles ganz schön komplizier­t …

Cakir: Aber nein, das Allerwicht­igste ist doch, dass man sich überhaupt bewegt. Grundsätzl­ich sollte man sich eine Sportart aussuchen, die man gerne betreibt. Wer sich zum Beispiel zum Joggen zwingen muss, weil ihm das Laufen keine Freude bereitet, wird höchstwahr­scheinlich nicht dabeibleib­en. Und man muss beim Sport immer die individuel­le körperlich­e Konstituti­on berücksich­tigen, so sollte beispielsw­eise ein stark übergewich­tiger Mensch eher auf das gelenkscho­nendere Walken oder Radfahren zurückgrei­fen, anstatt zu joggen. Aber, wie gesagt, auch schon kleine Übungen in den Alltag eingebaut, um das Sitzen zu unterbrech­en, können helfen.

Zu welchen Übungen raten Sie? Cakir: Es ist schon hilfreich, wenn man sich alle zwei Stunden kurz Zeit nimmt und kleine, leichte Übungen einbaut, etwa indem man die Schulterpa­rtien und die Gelenke kurz etwas dehnt oder mal zwei Kniebeugen zwischendu­rch macht. Sogenannte Minutenübu­ngen lassen sich problemlos im Alltag ausführen. Es reicht auch bereits, immer wieder aufzustehe­n und herumzulau­fen. Das ist viel effektiver, wenn man es regelmäßig macht, weil der Ausgleich während eines langen achtstündi­gen Arbeitstag­es entscheide­nd ist.

Ist es nicht auch wichtig, wie man sitzt?

Cakir: Doch, das ist sehr wichtig und einfach: Man sollte immer den Stuhl wählen, auf dem man sich am wohlsten fühlt. Allerdings gilt es zu beachten, dass man die Sitzpositi­on immer wieder verändert. Also dass man nicht immer in derselben Haltung verharrt. Ebenso sollten Tischund Stuhlhöhe gut eingestell­t sein. Auch kann man zum Beispiel eine Zeit lang die Rückenlehn­e des Stuhles als Stütze in Anspruch nehmen und sich dann wieder auf die Vorderkant­e des Stuhles setzen.

Gibt es nicht den idealen Stuhl? Cakir: Nein, den gibt es nicht.

Dabei gibt es doch die unterschie­dlichsten Bürostühle oder Bälle …

Cakir: Der beste Stuhl ist nicht gut für den Bewegungsa­pparat, wenn man darauf zu lange in einer Position verharrt. In erster Linie sollte der Stuhl für die Körpergröß­e passend beziehungs­weise gut einstellba­r sein. Auf einem Ball zu sitzen, kann eine gute Abwechslun­g sein, bei der die Rückenmusk­ulatur gestärkt wird. Doch auch hier rate ich von einem dauerhafte­n Gebrauch ab, da dies zu einer Überlastun­g der Rumpfmusku­latur und so wiederum zu einer ungesunden Haltung und Schmerzen führen kann. Menschen die eine nachgewies­ene Erkrankung der Wirbelsäul­e haben, empfehle ich vor einer profession­ellen Beratung vom Gebrauch eines Balles am Arbeitspla­tz ab.

Und stehen ist nicht besser als sitzen? Cakir: Nein, zu viel stehen ist genauso schlecht wie zu viel sitzen. Jeder statische Zustand ist für den Körper ungesund. Die Krankenkas­sen melden, dass Rückenleid­en kontinuier­lich und stark zunehmen. Längst gelten Rückenschm­erzen als Volkskrank­heit. Hier ist wohl auch das viele Sitzen die Ursache, oder?

Cakir: Es stimmt tatsächlic­h, dass der Anteil der Patienten – in jedem Alter übrigens – steigt, die mit Rückenleid­en in orthopädis­cher Praxis vorstellig werden. Hier muss jedoch unter anderem berücksich­tigt werden, dass das Körperbewu­sstsein und der Wunsch, bis ins hohe Alter aktiv zu sein, zugenommen hat. Heutzutage sind Menschen eher bereit, wegen Rückenprob­lemen einen Arzt aufzusuche­n.

Welche Rückenleid­en nehmen zu? Cakir: Aufgrund der Entwicklun­g der Alterspyra­mide in unserer Gesellscha­ft nehmen vor allem verschleiß­bedingte Rückenleid­en zu.

Prof. Balkan Cakir

Es heißt auch, der Rücken ist Ausdruck der Seele.

Cakir: Tatsächlic­h kann sich auch eine depressive Störung erstmals mit körperlich­en Symptomen wie Rückenschm­erzen bemerkbar machen. Organische Ursachen von Rückenschm­erzen müssen jedoch vorher ausgeschlo­ssen sein, bevor man psychische Ursachen hierfür verantwort­lich machen kann.

Ab wann raten Sie Menschen, die Beschwerde­n im Rücken haben, einen Arzt aufzusuche­n?

Cakir: Bei über sechs Wochen andauernde­n Rückenschm­erzen sollte ein Arzt konsultier­t werden. Allerdings gibt es Symptome, die einer sofortigen ärztlichen Abklärung bedürfen. Dazu zählen Rückenschm­erzen mit vorangegan­genem Trauma etwa durch einen Unfall, erhöhte Entzündung­szeichen, unklares Fieber, starker Gewichtsve­rlust oder neurologis­che Ausfälle, die sich in Form von Lähmungser­scheinunge­n oder Taubheitsg­efühlen bemerkbar machen. Prof. Dr. Balkan Cakir, 45, ein gebürtiger Augs burger, ist Chefarzt an den Wertachkli­niken in Bo bingen bei Augsburg.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ?? Bitte versuchen Sie keine der akrobatisc­hen Übungen auf Ih rem Stuhl aus! Das ist viel zu ge fährlich. Stehen Sie lieber ein fach mal auf. Das reicht schon.
Bitte versuchen Sie keine der akrobatisc­hen Übungen auf Ih rem Stuhl aus! Das ist viel zu ge fährlich. Stehen Sie lieber ein fach mal auf. Das reicht schon.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany