Mindelheimer Zeitung

Unglücklic­h zu sein, ist okay

- VON PAULINE MAY klartext@mindelheim­er zeitung.de

Was ist der Weg zum Glück?, wurde der Dalai-Lama einst gefragt. Seine Antwort: „Guter Schlaf und gutes Essen.“Mittlerwei­le scheint das allerdings nicht mehr zu genügen: Glück ist nur erreichbar, wenn man zur optimierte­sten Version seiner Selbst geworden ist. Schaut man sich die durchschni­ttliche Social Media Persönlich­keit an, scheint diese nur durch Leben in Altbauwohn­ungen und Beziehunge­n, in denen man niemals streitet, ihr Glück zu finden. Beim Frühstück, bestehend aus Matcha Tee, unterhält man sich über den anstehende­n Kurztrip: Trekking in Ecuador. Solche Menschen betätigen sich nach der Arbeit noch sportlich und berichten begeistert von der positiven Energie, die sie durchs Lachyoga gewonnen haben. „Mein inneres Kind wurde geweckt“, erzählen sie strahlend. Mein Leben ist wohl ein ziemlicher Gegenentwu­rf zum InstagramP­erfektioni­smus, bitte Gesellscha­ft, akzeptier’ mich trotzdem! Mein häufigster Gesichtsau­sdruck ist kein strahlende­s Lächeln, eher so ein neutrales Etwas, das Menschen, die mich nicht gut kennen, oft als wütend interpreti­eren. Dabei bin ich zufrieden. Vermutlich geht es Grumpy Cat ähnlich, wahrschein­lich werden ihre herunterhä­ngenden Mundwinkel auch falsch gedeutet. Ich bin noch lebendig, obwohl ich noch nie ein Fitnessstu­dio von innen gesehen habe. Ich lese gerne, das entspannt mich, manchmal lässt es mich auch aufgebrach­t werden. Tatsache ist, dass ich es liebe und dass ich mich im Leserausch so gut wie gar nicht bewege, zumindest nicht mit meinem Körper, weil sich das Erleben in meinem Kopf abspielt. Irgendwie scheint dieses Erleben aber in der Gesellscha­ft nichts wert zu sein. Man sollte ihm mehr Platz einräumen, auch wenn es die Menschen nicht fitter macht und man hinterher keine schönen Bilder des Regenwalds zeigen kann. Versteht mich nicht falsch, natürlich würde auch ich gerne den Regenwald sehen, nach Island oder Amerika reisen. Dabei neue Dinge zu lernen, Kulturen zu entdecken, ist großartig. Wovon man allerdings dringend abweichen sollte, ist, Menschen permanent mit vorteilhaf­ten Aufnahmen von sich selbst an diesen schönen exotischen Orten unter Erlebnisdr­uck zu setzen, sie danach zu beurteilen, wie viel Spaß sie haben. Das ist schlicht ungerecht und anmaßend, weil man unter manchen Umständen von Menschen einfach nicht erwarten kann, dass sie selig vor sich hinlächeln. Wenn ein junger Mensch Krebs bekommt, ist das Letzte, was er hören will, ein fröhliches „Leb’ deinen Traum. Sei doch mal ein bisschen positiver“. Man darf das Unglücklic­hsein nicht verbieten. Eine Bewegung, die suggeriert, dass man ein besserer Mensch ist, wenn man glücklich ist und Spaß hat, schließt diejenigen aus, denen das Leben ohnehin schon zu viel genommen hat. Man sollte den Unglücklic­hen das Gefühl geben, akzeptiert zu werden. Und so ein Stück Menschlich­keit zurückgewi­nnen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany