Im Alter nicht alleingelassen
Viele Senioren entscheiden sich, ins Pflegeheim zu ziehen. Was das Leben dort ausmacht
Wertachtal Ein blau-weiß gestreifter Wasserball flirrt über den Tisch. Links, rechts, hinten, links. Die Runde, die ihn hin und her wirft, sagt keinen Ton. Nicht mal ein Lachen oder ein Glucksen. Nur das Aufdotzen des Balls ist zu hören. Erst nach einigen Minuten unterbricht eine der Seniorinnen die Stille. „Den hab ich ja fast verpasst“, sagt sie und kichert jetzt doch.
Es ist ein ganz normaler Morgen im Senioren- und Pflegeheim in Buchloe. Das Wasserballspiel gehört zum üblichen Programm. Es soll ein Angebot für die Bewohner sein, erzählt Pflegerin Viktoria Pauli, die seit 30 Jahren im Haus arbeitet. Durch den regelmäßigen Nachtdienst kennt sie nahezu alle Patienten. Aus Erfahrung weiß sie: Ein Großteil in dieser Wasserballrunde ist dement, wie 80 Prozent der Bewohner – manche mehr, manche weniger.
Fast jeden Morgen und jeden Nachmittag steht etwas anderes für die Senioren auf dem Plan: Singen, Basteln, Spazieren. Was sie machen wollen, können sie frei wählen, sagt Pauli. Auch unabhängig vom Tagesprogramm. Und das tun sie auch.
Albert Hafner zum Beispiel fährt regelmäßig übers Wochenende zu seiner Familie. Er ist fit, wie er sagt. Dennoch hat er sich vor eineinhalb Jahren entschieden, ins Pflegeheim zu ziehen. „Ich habe eine Ärztin hier, die Fußpflege, komme mit allen gut aus und werde versorgt – was will ich mehr?“, fragt der 78-Jährige lachend. Nach dem Tod seiner Frau sei der frühere Landwirt alleine auf seinem Hof gewesen. Die Einsamkeit plagte ihn, daher seine Entscheidung. Gepflegt werden muss er nicht. „Höchstens mal den Rücken eincremen“, sagt er.
Als Viktoria Pauli ihn besucht, liest er gerade in seinem Sessel Zeitung. Er möchte informiert bleiben, sagt er. Doch für die Pflegerin legt er das Blatt beiseite und führt sie zur Wand. „Schauen Sie mal, der Jungbauernkalender, den hat mir mein Sohn geschickt.“Er deutet auf die abgebildeten, leicht bekleideten Frauen. Pauli muss lachen. „So ein Schweinkram“, ruft sie und verdreht die Augen. Die Bewohner dürfen ihr Zimmer eben frei gestalten. Und die Angestellten sind nicht nur Pfleger, sondern auch Vertraute.
Doch so unabhängig wie Hafner ist nicht jeder. Eine Frau sitzt im Rollstuhl am Mittagstisch. Eine Pflegerin füttert sie. Um den Hals der Bewohnerin hängt ein Lätzchen. Im Gemeinschaftsraum liegt am späten Morgen ein Senior in seinem Pflegebett. „Sonst würde er ja nur in seinem Zimmer liegen“, erzählt Pauli. Im großen Raum kann er aus dem Fenster schauen „und wenn die anderen Stadt Land Fluss spielen, ruft er gerne mit rein“, fügt die Pflegerin schmunzelnd an.
Auf solche individuelle Wünsche wollen die Angestellten eingehen. Jeder Bewohner habe eine Tagesstruktur, also einen Plan, wann was gemacht werden muss, erläutert Einrichtungsleiterin Sabine Kil: „Wenn jemand um vier Uhr nachts aufstehen möchte, kann er das tun, er kann aber genauso bis um zehn Uhr ausschlafen.“Lediglich die Essenszeiten und die Veranstaltungen seien festgelegt. Darüber hinaus passe sich das Personal den Gewohnheiten der Bewohner an.
Die sind ziemlich unterschiedlich. Marie Ullmanns liebste Beschäftigung ist das Beten. Mit einem kleinen Buch in der Hand sitzt sie am Tisch in ihrem Zimmer, die Brille auf der Nase, und spricht vor sich hin. Sie lebt in einem Einzelzimmer, neben dem es auch Doppelzimmer in der Einrichtung gibt. Dass sie ihren Raum nicht teilen muss, war ihr wichtig: „Dann kann ich mit dem Herrgott alleine sein.“Doch nicht nur ihr Glaube begleitet ihren Alltag im Pflegeheim, auch ihr Humor. Leidenschaftlich gerne schreibe sie Gedichte. Spricht sie mit Pauli, springt sie zwischendrin auf, singt und tanzt, obwohl sie mit ihren 89 Jahren auf den Rollator angewiesen ist. „Unsere Scherznudel“, sagt Viktoria Pauli lachend. Margit Sälzle wirkt ernster. Die 86-Jährige lebt erst seit sechs Wochen im Pflegeheim. Ihr Sohn hat sie darum gebeten, weil sie bereits mehrmals gefallen ist. „Er macht sich Sorgen um mich und will mich nicht alleine Zuhause lassen“, erzählt sie und wirkt verständnisvoll.
Ihr Haus habe nun er übernommen. Sie besucht ihn dort regelmäßig. „Es war sehr schwer, dort auszuziehen. Mein verstorbener Mann und ich haben es selbst gebaut“, sagt sie. So wohl sie sich im Heim auch fühlt, ihr Zuhause sei es nicht.
„Ich brauche eine Freundin hier, das fehlt mir hier noch“, meint sie mit brüchiger Stimme. Viktoria Pauli lächelt aufmunternd zu. „Ich kümmere mich und höre mich um“, sagt sie und zwinkert Sälzle zu. Und schon muss auch die Bewohnerin wieder lächeln.