Mindelheimer Zeitung

Willkommen an Gleis 11

Für Millionen Gastarbeit­er, die im Zeitalter des Wirtschaft­swunders nach Deutschlan­d kamen, war der Münchner Hauptbahnh­of die erste Station. Sie alle prägten das Land

- VON STEPHANIE SARTOR

München 70 Stunden sind die Züge von Istanbul nach München unterwegs. 70 lange Stunden, in denen die Menschen in ein neues Leben fahren. Sie erwarten das Paradies – landen aber erst einmal in einem dunklen Bunker. Direkt unter Gleis 11 des Münchner Hauptbahnh­ofs. Der Ort ist Drehscheib­e. Verteilsta­tion. Zwischenst­opp. Für die vielen Gastarbeit­er, die damals mit dem Zug in Bayern ankommen – aus Istanbul, aber auch aus Rom, Zagreb, Belgrad oder Brindisi. Dringend gebraucht im deutschen Wirtschaft­swunderlan­d.

Die Gastarbeit­er-Geschichte beginnt im Jahr 1955, als Deutschlan­d das erste Anwerbeabk­ommen mit Italien schließt. Es folgen Verträge mit Spanien, Griechenla­nd, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawie­n. Und die meisten Menschen kommen irgendwann am Münchner Hauptbahnh­of an.

Von Bayern aus geht es weiter, oft nach Nordrhein-Westfalen, ins Land von Kohle und Stahl, oder nach Niedersach­sen in die Autoindust­rie. Käfer bauen. „Die meisten kamen aber nicht, um zu bleiben. Die Menschen wollten in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld verdienen“, sagt Thomas Schlemmer vom Institut für Zeitgeschi­chte in München. Mit diesem Geld unterstütz­en sie die Daheimgebl­iebenen, bevor sie selbst zurückfahr­en. Andere sparen das Geld, um sich später in der Heimat etwas aufzubauen.

Einige aber bleiben. Sie heiraten, gründen eine Familie, eröffnen eigene Geschäfte – oft in der Gastronomi­e. Italienisc­he Restaurant­s werden zum Massenphän­omen. Und Pizza und Pasta erobern die Speisekart­en und die Herzen der Deutschen. Heute kann man sich ein Leben ohne den gemütliche­n „Italiener um die Ecke“kaum mehr vorstellen.

Bis 1973 kommen etwa 14 Millionen Ausländer in die Bundesrepu­blik. Etwa elf Millionen kehren in ihre Heimat zurück. Weil viel mehr Leute bleiben als ursprüngli­ch gedacht, versucht man später, die Gastarbeit­er mit finanziell­en Anreizen dazu zu bewegen, Deutschlan­d wieder den Rücken zu kehren. „Aber es sind nicht so viele gegangen wie von der Politik erhofft“, sagt Schlemmer.

Und so leben heute die Kinder und Enkel jener Menschen hier, die vor Jahrzehnte­n hier ankamen. In Bayern. Am Münchner Hauptbahnh­of. An Gleis 11.

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Foto: dpa Von Bayern aus ging es für die Gastar beiter in die ganze Republik, etwa ins VW Werk nach Wolfsburg.
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