Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (52)
Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbruder nennt. Er kommt aus dem Schlamassel, aus seinen Verhältnissen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomisch. ©Projekt Guttenberg
Während Jauch, jetzt dunkelrot, mit zitternden Lippen, sich umsieht. Aber die schreiben ja alle, kein Laut außer dem Getrommel der Maschinen – und dann geht Jauch plötzlich hastig mit ganz kleinen, trippelnden Schritten in sein Zimmer. Auf der Schwelle aber ruft er: „Herr Patzig, bitte!“Patzig, ein langer, schlenkriger Jüngling mit einer Brille (todsicher Portokasse), steht auf, sieht sich ängstlich um, geht zum Büro von Herrn Jauch – und Jänsch sagt: „Wenn du Lampen machst! Jungchen –“Patzig murmelt etwas, ganz hilflos, und ist weg. Wird er die Namen der Zwischenrufer ausquatschen?
Nein, er tut es nicht. Es erfolgt nichts. Die haben alle Angst, Jauch genau so wie seine Musterknaben. Weiter darf Kufalt an seiner Maschine sitzen, aber – hilft das was?
Es hilft nicht einmal etwas, daß Jauch nun nicht mehr schimpft und nörgelt. Jauch kennt ja seine Leute, mit ziemlicher Sicherheit würde er die Richtigen treffen, wenn er fünf
oder sechs auf die Straße setzte, aber mit ziemlicher Sicherheit würde es ihn dann auch treffen, harte Abreibung. Jauch nimmt sich in acht. Wortlos steht er nun halbstundenlang hinter Kufalts Stuhl und – alle zwei Minuten etwa – fährt sein Zeigefinger nach dem Getippten, wortlos zeigt Jauch einen Tippfehler. Und weiter – und wieder der Zeigefinger mit den häßlichen Reißnägeln, dem dicken, eingedrückten Nagel, gelb von Nikotin ...
„Kannst du dich denn nicht ein bißchen zusammenreißen, Kufalt?“fragt Maack. „Im Grunde hat er ja recht: du vertippst dich viel zuviel.“
„Es wird immer schlimmer“, sagt Kufalt. „Ich will und ich will, aber je mehr ich will, um so schlimmer wird es. Und plötzlich bin ich weg, alles leer in mir, als wäre ich gar nicht mehr …“
„Richtig“, sagt Maack und nickt. „Alles richtig. Haben wir alle gehabt, wir Langstrafigen. Kittchenkrankheit. Sieh, daß du schnell davon loskommst. Hast du noch im- mer kein Mädchen? Ein bißchen hilft das doch.“Nein, Kufalt hat noch immer keines und es sieht auch nicht aus, als käme von dieser Seite bald die Erlösung. Am Steindamm gab’s zwar genug Mädchen, die billig zu haben gewesen wären. Aber war man dafür fünf Jahre im Kittchen gewesen, um so wieder anzufangen? Es ließ sich doch wirklich ein bißchen an wie ein ganz neues Leben – sollte es so anfangen? Nein, nein, ganz abgesehen von Fräulein Behn… Trotzdem Fräulein Behn – von jenem Abend im Hammer Park an, über eine falsch gemietete Wohnung, die dann zur richtigen wurde, von dem Gespräch mit der Mutter über die Tochter – hin bis zum Blick in die nächtliche Küche auf die, die sich wusch – eine gab es nur für ihn: Fräulein Behn. Es war hoffnungslos, aussichtslos, sie hatte andere, sie war ein kaltes Luder, er wagte nicht sie anzureden – aber lag er denn nicht nachts im Bett und beschwor sie: ,Komm! Komm! Du mußt kommen! Ich verrecke nach dir! Komm doch ein einziges Mal! O du!‘ Man hätte das alles vielleicht besser ertragen, wenn man’s für sich allein zu ertragen gehabt hätte. Aber – und das war das schlimmste – man wußte genau: sie fühlte es. Man spürte es durch drei Wände, zwei Zimmer: sie lag da und fühlte es. Es war in ihr, sie genoß es vielleicht, das war ihr Glück, aber sie kam nie. Das Fenster stand offen, guter Sommerwind, leise schleiften die Gardinen, die Stadtbahnzüge kamen, klirrten hell unter dem Fenster und waren schon ferner – lieber Kufalt, es war eine große, grausige Sache, daß man so lag und war verrückt vor Sehnsucht und Begehren. Fünf Jahre hatte man gelegen, die kleine Zelle mit dem schräg gestellten Milchglasfenster –: ,Heraus, oh, laßt mich doch heraus, ihr Schurken, nur eine Nacht, nur eine Stunde draußen sein, ich werde ja verrückt hier…!‘ Wer hatte ihm, Kufalt, gesagt: „Wenn man erst wieder draußen ist, wird es erst richtig schlimm?“
Egal wer, es war richtig schlimmer geworden.
5
Abends kam manchmal Beerboom zu Besuch. Beerboom war nun doch nicht der einzige Heiminsasse in der Apfelstraße geblieben, neue Strafentlassene waren gekommen, er hatte Gesellschaft genug. Aber er kam doch immer wieder zum alten Kufalt, aus Anhänglichkeit vielleicht, in Erinnerung an jene Zeit, da sie beide allein in Friedensheim gehaust hatten.
Beerboom ging es auch nicht besser, sah man ihn an, merkte man, es ging ihm schlechter, noch viel schlechter. Gelb und zerknittert; dicke, graublaue, körnige Tränensäcke; ein huschender, feiger, schwarzer Blick, der stach, sah er einen an; törichtes, haltloses Geschwätz ohne Sinn und Verstand…
„Ach die, der Seidenzopf und der Mergenthal und ihr schöner Pfaffe, der Marcetus, den Buckel können sie mir runterrutschen, alle! Ich mache überhaupt nichts mehr, gestern hab’ ich vierzig Adressen getippt – was die getobt haben!“
Er grinst.
„Da wird Ihr Geld aber rasch alle werden“, sagt Kufalt.
„Mein Geld? Ist schon beinahe alle. Ist mir ja so egal. Ich brauch’ bald überhaupt kein Geld mehr.“
Kufalt betrachtet aufmerksam das grüblerische, gelbe Gesicht. „Denken Sie bloß nicht an so was, Berboom. Sie gehen todsicher gleich beim erstenmal hoch.“
„Das macht nichts“, grinst Beerboom wieder.
„Egal, wenn ich hochgehe. Was ich haben will, hab’ ich dann gehabt.“
Kufalt überlegt, dann fragt er weiter, aber in diesem Punkt hält der schwatzhafte, ewig klagende Beerboom dicht: „Sie werden’s ja sehen. Und übrigens mach’ ich es vielleicht überhaupt nicht.“
Kufalt überlegt immer weiter: „Haben Sie den Berthold mal wieder gesehen?“Beerboom macht eine wegwerfende Handbewegung: „Berthold? Ja, der wohnt jetzt in der Langenreihe. Feine Bude, scheint ihm gutzugehen.“
„Lassen Sie sich bloß nicht mit dem Berthold ein!“warnt Kufalt.
„Ich mit dem? So blau! Meine drei Mark wollte ich wieder, aber dann hat er mir noch fünf Mark abgeknöpft. Er hat mir ehrenwörtlich versprochen, am Ersten kann ich mir dafür zwanzig Mark abholen von ihm.“Und ganz im alten Tonfall, ganz der alte Beerboom: „Glauben Sie, daß ich sie kriege? Glauben Sie, daß er sie mir gibt? Er muß sie mir doch geben, nicht wahr? Ich kann ihn doch darauf verklagen, was?“
„Ich denke, Sie brauchen bald kein Geld mehr?“fragt Kufalt.
„Ach was“, sagt Beerboom plötzlich wieder mürrisch.
„Geld braucht man immer. Denken Sie, ich schenk’ dem Berthold Geld? So doof!“
Nein, die richtige Gesellschaft ist Beerboom nicht, aber Kufalt findet ihn noch immer besser als das Warten allein, bis die Flurtür klappt, der leichte, rasche Schritt über den Vorplatz geht, er die halblaute Stimme dann hört mit zwei gleichgültigen Sätzen zu Mutter Behn. »53. Fortsetzung folgt