Mindelheimer Zeitung

Ein großes Herz für das Weltall

Noch einmal duschen, zum letzten Mal für sechs Monate. Zum Frühstück Grütze. Dann schießt eine Rakete Alexander Gerst mit fast 28000 Stundenkil­ometern in den Orbit. Und in Oberpfaffe­nhofen genießt ein Ex-Astronaut aus dem Unterallgä­u diesen großen Moment

- VON JUDITH RODERFELD UND ANDREAS FREI

Oberpfaffe­nhofen/Baikonur Stille. Zum ersten Mal in diesen aufregende­n Stunden hört Klaus-Dietrich Flade auf zu plaudern. Es ist der Moment, als Alexander Gerst abhebt. Flade fixiert den Bildschirm. Mit seinem Handy filmt er das winzige Raumschiff auf dem Fernseher, auch als das Feuer der Trägerrake­te schon lange verblasst ist. 26 Jahre ist es her, dass der Mann aus Bad Wörishofen selbst in solch einer Kapsel lag. Es war der 17. März 1992, und der heute 65-Jährige brach als erster deutscher Raumfahrer zur russischen Station Mir auf.

Jetzt steht Flade direkt über dem German Space Operation Center, der Kontrollei­nheit des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffe­nhofen bei München. Mit 1800 Mitarbeite­rn ist das der größte Standort des DLR. Von hier aus wird das Forschungs­modul Columbus betrieben, der europäisch­e Beitrag zur Internatio­nalen Raumstatio­n ISS. Rund um die Uhr verfolgen 40 Techniker und Wissenscha­ftler auf Dutzenden Bildschirm­en und drei riesigen Leinwänden, was in dem Labor geschieht, überwachen Stromverbr­auch, Atemluft und Raumtemper­atur. Schon 1992 haben viele Menschen in Oberpfaffe­nhofen zugeschaut, als Flade ins All flog. Nun ist er selbst einer von ihnen.

Gut 4500 Kilometer entfernt, in der Hitze der kasachisch­en Steppe, hat Alexander Gerst, 42, an diesem Morgen zum letzten Mal geduscht. Zumindest zum letzten Mal für sechs Monate. Zum Frühstück gab es Kascha, eine Art Grütze. Dann signierte der Astronaut aus dem württember­gischen Künzelsau mit seinen Kollegen, dem russischen Kampfpilot­en Sergej Prokopjew, 43, und der amerikanis­chen Ärztin Serena Auñón-Chancellor, 42, die Türen ihrer Hotelzimme­r in Baikonur – eines von vielen Ritualen in der russischen Raumfahrt. Dass sie mit Freunden und Familien am Vorabend den 1969 gedrehten sowjetisch­en Western „Weiße Sonne der Wüste“angeschaut haben, ist auch so eine Uralt-Tradition. Russische Kosmonaute­n sind abergläubi­sch und sehr emotional. Und weil hier die Raumfahrtg­esetze der Russen gelten, übertragen sich ihre Gewohnheit­en eben auf die Kollegen aus anderen Nationen.

Am Ende seines fast zeremoniel­len Vorbereitu­ngsprogram­ms saß Alexander Gerst dann strahlend in seinem blauen Overall im Bus, auf dem Weg zur Ankleidung, und schickte ein paar Grüße über den Internet-Nachrichte­ndienst Twitter. Den etwa: „Beobachten desinteres­sierte Kamele am Wegesrand.“Wer ein paar Minuten, bevor er mit fast 28000 Stundenkil­ometern ins All katapultie­rt wird, noch Augen für die Alltäglich­keiten der Steppe hat, dem darf man eine gewisse Coolness unterstell­en.

Für den großen Moment haben sie Startrampe 1 gewählt. Ausgerechn­et die Rampe, von der aus Juri Gagarin 1961 als erster Mensch den Kosmos erkundete. Die Sowjetunio­n hatte die gesamte Anlage in den 1950er Jahren aufgebaut. Heute hat Russland das riesige Areal von der verbündete­n Ex-Sowjetrepu­blik Kasachstan gepachtet. Es zahlt dafür umgerechne­t 115 Millionen USDollar – pro Jahr.

Auf Startrampe 1 also kletterte Gerst, nun im weißen Raumanzug mit den deutschen Farben auf dem linken Oberarm, in seine Kapsel; zuvor hatte er die Hände zu einem Herz geformt – ein letzter Gruß. Er ist Co-Pilot auf der Reise zur ISS, hat demzufolge die Systeme in Gang gesetzt und dabei die Lieder abgespielt, die Twitter-Nutzer für ihn aussuchen durften. Die Titelmelod­ie der früheren TV-Zeichentri­ckserie „Captain Future“, „Astronaut“von Sido und Andreas Bourani, „Heute hier morgen dort“von Hannes Wader – solche Sachen.

In diesen Minuten ertönt in Oberpfaffe­nhofen Peter Schillings „Major Tom“aus den Boxen, noch so ein Titel aus der Abteilung Astronaute­n-Musik. Vor der Leinwand sammeln sich die DLR-Experten. Eine Viertelstu­nde dauert es da noch, bis sich die Rakete aus ihrer Halterung lösen wird. Das zeigt der Live-Countdown, der an jedem Bildschirm im Saal aufblinkt. „Jetzt sind alle Beteiligte­n mit dem Prozedere fertig“, sagt Klaus-Dietrich Flade. Damit meint er die Checkliste, die abgehakt werden muss, jedes einzelne System wird kontrollie­rt. Das ist Standard, bevor es ins Weltall geht. „Die Liste wiegt ein ganzes Pfund.“Zumindest so lange, bis alles schwerelos wird.

Dann, pünktlich um 13.12 Uhr deutscher Zeit, löst sich die Trägerrake­te vom Typ Sojus dank ihrer 26 Millionen PS von der Rampe. Und 4500 Kilometer entfernt in Oberbayern ist Klaus-Dietrich Flade für einen Moment still. Das wirkt fast andächtig, jedenfalls ganz und gar nicht aufgeregt. Geht es um die Luft- und Raumfahrt, ist er in seinem Metier. „Da bleibe ich sachlich“, sagt er.

Als er 1992 mit seiner Crew zur russischen Station Mir aufbrach, war das genauso. „In dem Moment musst du mit allen Sinnen da sein, ein emotionale­r Zustand hindert dich nur daran.“Angst, sagt er, habe er in den Momenten nie gehabt. „Was während eines Flugs passieren kann, darüber macht man sich lange vorher Gedanken.“Euphorie? „Vielleicht am Anfang. Als ich in der Kapsel lag, nicht mehr.“Der pensionier­te Raumfahrer und Testpilot glaubt, dass Gerst ähnlich tickt. Er kennt ihn, von Veranstalt­ungen und Vorträgen, unter Raumfahrer­n sei das ganz normal.

„Cool, oder?“Flades erster Satz nach dem Start der Rakete. Er hat alles auf Video. Kurz darauf sagt er: „Jetzt wäre das Raumschiff theoretisc­h schon hinter Japan.“Viereinhal­b Kilometer schaffe die Maschine in der Sekunde. Flade lächelt.

Erst am Freitag, nach zwei Tagen und 34 Erdumrundu­ngen, sollen Alexander Gerst und seine Kollegen die ISS in etwa 400 Kilometer Höhe erreichen. Es werden entbehrung­s- reiche Stunden sein. Eingezwäng­t in ihre Kapsel haben sie, abgesehen von einigen Manövern in drei Phasen des Flugs, nur wenig zu tun. „Diese zwei Tage sind kein besonders großes Vergnügen“, sagt Thomas Reiter, der 2006 zur ISS geflogen ist. Dennoch sei der Flug weniger schlimm, als man denken könnte. Nach dem Start könnten die Raumfahrer die Luke zum sogenannte­n Orbitalmod­ul öffnen, in dem auch Fracht lagere, erklärt der Funktionär der europäisch­en Raumfahrta­gentur Esa. „Dann legen sie ihre Druckanzüg­e ab. Die sind nicht besonders bequem.“In der rundlichen Kugel an der Spitze des Raumschiff­s gibt es auch eine Toilette – „man kann ja nicht zwei Tage die Beine zusammenqu­etschen“, sagt Reiter.

Sechs Monate im All und allein 41 DLR-Forschungs­projekte warten auf Gerst. Im Herbst soll er – als erster Deutscher überhaupt – Kommandant der sechsköpfi­gen Crew werden, es ist ja schon sein zweiter Einsatz dort oben. Zum Abschied waren die Familie und seine Freundin da. Reist die Angst mit? „Das Training ist dafür da, dass man keine Angst hat, sondern genau weiß, jetzt muss ich das und das tun“, hat er vor einiger Zeit mal gesagt.

Als Klaus-Dietrich Flade für insgesamt acht Tage die Erde verließ, war sein Sohn Sebastian zwölf Jahre alt. „Ich habe schon Angst um ihn gehabt“, erinnert sich der heute 39-Jährige. Wie viele andere durfte er als Kind den Start nur auf den

Zum Abschied ins Kino – ein sowjetisch­er Western

Wie der Sohn die große Reise des Papas erlebte

Bildschirm­en verfolgen – auf denen des DLR in Oberpfaffe­nhofen, wo er nun wieder steht, neben seinem Vater. Insgesamt ein Jahr lang war Flade damals nicht zu Hause. Das Basistrain­ing im Kosmonaute­nAusbildun­gszentrum bei Moskau dauerte so lange. Die Familie musste zu dem Zeitpunkt hinten anstehen. „Als er aus der Kapsel stieg, war er so bleich wie sein Raumanzug“, sagt Sebastian Flade über den Tag der Rückkehr. Der Papa hatte viel Gewicht verloren während seines Aufenthalt­s im Weltraum.

Beginnt Klaus-Dietrich Flade von der Zeit fernab des eigenen Planeten zu erzählen, gerät er noch immer ins Schwärmen. „Wenn die Vorstellun­g und der Glaube vom All sich in Wissen verwandeln, ist das einfach schön.“Jedes Mal fasziniere ihn so ein Ereignis. Aber noch mal in den Kosmos, das muss er nicht. Das, sagt er, wolle er jetzt den Jüngeren überlassen, Menschen wie Alexander Gerst. „Das ist nun sein Job.“

Acht Minuten und 26 Sekunden sind seit dem Abflug der Sojus-Rakete vergangen. Die Schwerelos­igkeit ist erreicht. Das Polizeiprä­sidium Oberbayern Süd wird sich später einen kleinen Scherz erlauben und so etwas wie ein Gedankenex­periment twittern. Fast 28 000 Stundenkil­ometer – mein lieber Schwan! Würde Gerst jetzt bei erlaubten 100 km/h geblitzt werden, würde das bedeuten: „500000 Euro Geldbuße, 1120 Punkte in Flensburg und ca. 70 Jahre Fahrverbot.“

 ?? Fotos: Vyacheslav Oseledko/afp, Judith Roderfeld ?? Bis in sechs Monaten dann: Alexander Gerst verabschie­det sich auf dem Weltraumba­hnhof Baikonur in Kasachstan von seiner Freundin, der Familie und angereiste­n Freunden.
Fotos: Vyacheslav Oseledko/afp, Judith Roderfeld Bis in sechs Monaten dann: Alexander Gerst verabschie­det sich auf dem Weltraumba­hnhof Baikonur in Kasachstan von seiner Freundin, der Familie und angereiste­n Freunden.
 ??  ??
 ??  ?? Der Ex Astronaut Klaus Dietrich Flade (rechts) mit Sohn Sebastian.
Der Ex Astronaut Klaus Dietrich Flade (rechts) mit Sohn Sebastian.

Newspapers in German

Newspapers from Germany