Mindelheimer Zeitung

„Sané wäre bei mir dabei gewesen“

Der ehemalige Löwen-Trainer Reiner Maurer hat schon für Berti Vogts und Christoph Daum als Videoanaly­st gearbeitet. Die WM verfolgt er mehr als Fan denn als Trainer

- Interview: Axel Schmidt

Herr Maurer, sind Sie denn schon in WM-Stimmung?

Reiner Maurer: Heute noch nicht. Mit dem Anpfiff zum ersten Spiel, wird die WM-Stimmung auch da sein.

Sehen Sie die Spiele als Fan oder doch eher als Trainer und überlegen sich dabei immer, wie man den Gegner nun knacken könnte?

Maurer: Ich fiebere bei den Spielen der deutschen Mannschaft genauso als Fan mit. Bei den anderen Spielen kommt schon öfter der Trainerged­anke durch. Ich sehe natürlich sehr gerne Fußball und es kann durchaus sein, dass ich mir auch sämtliche Spiele anschaue.

Was viele nicht wissen: Sie waren in den 1990er Jahren als Videoanaly­st beim Deutschen Fußballbun­d (DFB) für die Nationalma­nnschaft tätig. Maurer: (lacht) Ja, das war im letzten Jahrtausen­d. Da war Berti Vogts noch Bundestrai­ner. Ich war von etwa 1996 bis 1999 als Videoanaly­st tätig. Damals war das noch lange nicht so ausgeprägt, wie es heute ist. Mittlerwei­le hat ein Verein wie RB Salzburg zwei Analysten allein für den Nachwuchs.

Wie sah denn Ihr Tätigkeits­feld damals aus?

Maurer: Ich hatte die Trainer A-Lizenz und war bereits als Spieler bei 1860 in der IT-Branche tätig. Dadurch hat es sich ergeben, dass ich mich mit dem Thema Videoanaly­sen intensiv beschäftig­t habe. Ich habe Berti Vogts durch eine Spielanaly­se seiner Mannschaft überzeugt, welche Aussagen meine computerge­stützten Videoanaly­sen im Gegensatz zu einer Datenbank liefern. Der Bundestrai­ner gab mir nach seinen Länderspie­len vor, welche Schwerpunk­te er von seinem Spiel analysiert haben wollte. Und ich schickte ihm dann nach den Länderspie­len eine Videokasse­tte mit den analysiert­en Spielsitua­tionen plus den entspreche­nden Daten.

Was waren das für Szenen?

Maurer: Es ging beispielsw­eise um die defensive Zweikampff­ührung einzelner Spieler oder auch darum, wie die Mannschaft zu mehr Torchancen hätte kommen können. Ob es der falsche Laufweg war, der Pass zum falschen Zeitpunkt oder ungenau gespielt wurde. Man sah die Stärken und Schwächen der Spieler in bestimmten Situatione­n – und damit konnte Berti Vogts dann mit den Spielern daran arbeiten. Das Schöne war, dass man ganz gut Zeit dafür hatte. Denn damals lagen zwischen den Länderspie­len meist zwei, drei Monate.

Im Prinzip waren Sie ja ein Pionier auf diesem Gebiet.

Maurer: Das war damals tatsächlic­h ein Novum. Erst ab 2004 wurde das beim DFB grundlegen­d geändert.

Zu der Zeit aber waren Sie schon wieder im Bundesliga-Fußball tätig. Maurer: Ich habe damals hin und wieder für Bayer Leverkusen gearbeitet. Christoph Daum hat sehr intensive Videobespr­echungen gemacht, oftmals vor dem Training. Schon damals gab es einen Mitarbeite­r von Bayer, der das Training mit der Kamera aufnahm. Nach Abschluss meines Fußball-LehrerLehr­gangs 1998 führte ich Analysen für Werner Lorant von 1860 München durch. Von 1999 bis 2001 habe ich zusätzlich die Spiele von der SpVgg Unterhachi­ng analysiert, die damals in der Ersten Bundesliga spielten. Zur selben Zeit war ich noch Trainer beim FC Memmingen. Ab 2001 war ich dann als Assistenzt­rainer nur noch für 1860 München tätig.

Schöne neue Welt. Dennoch gibt es auch Kritik, zuletzt vorgetrage­n von Mehmet Scholl, der die Traineraus­bildung, aber auch das Training im Nachwuchsb­ereich scharf kritisiert­e. Wie stehen Sie dazu?

Maurer: Das Motto „Geht’s raus und spielt’s Fußball“gibt es nicht mehr. Die durchaus berechtigt­e Kritik von Mehmet Scholl bezieht sich nicht auf die Videoanaly­sen. Vielmehr müssen auch die individuel­len Stär- ken jedes einzelnen Spielers gefördert werden. Im Trainingsa­ufbau der Bundesliga-Leistungsz­entren wird auch aus meiner Sicht zu sehr diktiert. Vorgaben wie eine ausführlic­he Dokumentat­ion der Trainingse­inheiten sowie die sehr langfristi­ge Planung der Trainingse­inheiten verhindern den konkreten Einfluss auf die einzelnen Spieler und die aktuelle Situation.

War Jogi Löw auf diesem Auge bei Leroy Sané blind?

Maurer: Bei mir wäre er jedenfalls dabei gewesen. Julian Brandt mag seine Qualitäten haben, aber mit Sané kann er nicht mithalten. Und Julian Draxler war ja bei Paris auch nur die Nummer fünf oder sechs im Offensivbe­reich. Sané hat bei Manchester City 15 Tore geschossen und zehn vorbereite­t. Aber Pep Guardiola spielt auch ein anderes System als Jogi Löw. Bei ihm müssen die Außenverte­idiger offensiver agieren, die Stürmer rücken dafür weiter ins Zentrum. Das kommt Spielern wie Thomas Müller oder Marco Reus entgegen. Sané eher nicht.

Welche Taktik würden Sie bevorzugen? Maurer: Ich kann mir vorstellen, dass Jogi Löw gegen Top-Nationen mit einer Dreier-Kette spielt. Dass also Niklas Süle noch die Defensive verstärkt und man dafür nur noch mit zwei zentralen Mittelfeld­spielern spielt. Dann hätte man einen noch verstärkte­n Bayern-Block in der Abwehr, der für mehr Sicherheit sorgt. Die Abwehr war zuletzt anfällig. Ähnlich ist Löw ja 2014 verfahren, als er in den entscheide­nden Spielen Philipp Lahm zurückbeor­derte. Von da an lief es und man kassierte ab dem Viertelfin­ale nur ein Gegentor – beim 7:1 gegen Brasilien.

Waren die beiden Testspiele gegen Österreich (1:2) und Saudi-Arabien (2:1) auch so etwas wie ein Weckruf? Maurer: Die ersten Halbzeiten in beiden Spielen waren aus meiner Sicht okay. Gegen Saudi-Arabien führte man 2:0, hat zwei Mal den Pfosten getroffen und ein Tor wurde zu Unrecht aberkannt. Die zweiten Halbzeiten waren leider desolat. Wenn man gegen Österreich in der zweiten Halbzeit gefühlt acht Torchancen zulässt, verunsiche­rt das. So etwas ist nicht gut für eine Mannschaft. Vor so einem Turnier ist es wichtig, dass sich die Spieler mental stark fühlen. Der Trainer, denke ich, hat alles im Griff und die Spieler wissen auch (hoffe ich zumindest), was sie ab Sonntag leisten müssen. Grundsätzl­ich wäre es aber besser gewesen, wenn man in den letzten beiden Spielen eine bessere zweite Halbzeit abgeliefer­t hätte.

Wer ist denn Ihr WM-Favorit? Maurer: Ach, da lehne ich mich jetzt nicht aus dem Fenster. Es werden die üblichen Verdächtig­en sein, Spanien und Frankreich. Brasilien ist wesentlich stärker, mit Neymar und Coutinho haben sie zwei äußerst dribbelsta­rke und torgefährl­iche Außenspiel­er. Auch Argentinie­n und England sind nicht zu verachten. Dazu schätze ich Belgien um de Bruyne sehr hoch ein. Natürlich wünschen wir uns alle, dass wir den Titel erneut gewinnen. ● Reiner Maurer, 58, wurde in Mindelheim geboren. 1983 unter schrieb er seinen ersten Profivertr­ag beim FC Bayern München, wo er jedoch nur ein Jahr blieb. Es folgten die Stationen VfB Stuttgart, Karls ruher SC, Arminia Bielefeld, Old Boys Basel und TSV 1860 München. Mit den Löwen schaffte er den legendä ren Durchmarsc­h von der Bayern in die Bundesliga (1994). Auch als Trainer war Maurer bei den „Lö wen“tätig (als Cheftraine­r von 2004 bis 2006 und von 2010 bis 2012). Außerdem trainierte Maurer Teams in Griechenla­nd und zuletzt den FC Angthong in Thailand. Zurzeit lebt Maurer in München. Während der WM wird er für die Mindelheim­er Zei tung die Spiele der deutschen Elf analysiere­n.

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Archivfoto: Lenuweit „Ich schaue gerne Fußball“, sagt Reiner Maurer. Früher analysiert­e er Länderspie­le für Bundestrai­ner Berti Vogts, heute verfolgt er die WM als Fan.

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