Mindelheimer Zeitung

Eine Frau sagt: Das ist eine Schweinere­i! Schluss mit Schmusekur­s

- VON DANIEL WIRSCHING

Es ist noch nicht Schluss an diesem Abend

Das Chiemgauer Volkstheat­er ist eine Institutio­n im Bayerische­n Fernsehen. Nun stellt der Sender die Zusammenar­beit ein – nach 23 Jahren. Der Ärger ist groß, die Fans sind stinksauer. Und so wird die Aufzeichnu­ng des letzten Stücks zu einer Generalabr­echnung

Haar Er habe einiges zu sagen, kündigte Bernd Helfrich damals am Telefon an. Aber erst zu gegebener Zeit. „Ich bitte Sie um Verständni­s“, sagte er. „Ich will mich gerade nicht äußern. Aber kommen Sie zu unserer Fernsehauf­zeichnung.“Helfrich und seine Familie – sie sind das Chiemgauer Volkstheat­er. Ein Familienbe­trieb, eine Institutio­n. Der 72-jährige gebürtige Münchner ist keiner, der sich seinen Schnauzer abrasiert, nur weil das in Mode ist. Keiner, der sich wegduckt. In den 80ern spielte er als Eishockeyt­orwart in der Kreisliga, er kam auf Kurzeinsät­ze beim Deutschen Eishockeyp­okal.

An jenem Tag klang Bernd Helfrich aufgewühlt am Telefon. Es war der Tag, an dem das Ende einer Ära bundesweit bekannt wurde. Der gebührenfi­nanzierte öffentlich-rechtliche Bayerische Rundfunk hatte mitgeteilt, dass er die Zusammenar­beit mit dem Chiemgauer Volkstheat­er aus dem oberbayeri­schen Riedering einstellt. Nach 23 Jahren.

Die Verärgerun­g darüber hält an; es bleiben Fragen: Wie konnte es dazu kommen? Wer schaut überhaupt Volkstheat­er-Stücke im Fernsehen oder auf der Bühne? Sind sie nicht überfracht­et mit Klischees und aus der Zeit gefallen?

Ein Donnerstag­abend, Kleines Theater Haar. Jetzt gehört ihm die Bühne. Und die gesamte Aufmerksam­keit. Der Moment ist gekommen, den er damals am Telefon angekündig­t hat. Was wird Helfrich sagen? Wird es eine Abrechnung?

Der BR zeichnet zum letzten Mal ein Stück der Chiemgauer für das Fernsehen auf. Helfrichs Sohn Harald hat es geschriebe­n, er selbst führt Regie, seine Frau Mona Freiberg spielt die resolute Putzfrau Uschi Riemschnei­der. Die Komödie in drei Akten heißt „Nicht öffentlich“. Ausgerechn­et. Das Ende des Chiemgauer Volkstheat­ers ist inzwischen öffentlich – ein öffentlich­es Ärgernis. Warum schmeißt der BR die Chiemgauer aus dem Programm, zumindest deren Neuprodukt­ionen? 180 Folgen, die er im Repertoire hat, will er ja weiterhin wiederhole­n. Nicht alle Zuschauer im Saal wissen das. Am Ende der Aufführung werden sie in kleinen Gruppen beieinande­rstehen und diskutiere­n. Ein Mann wird sich aufregen: „Das kann doch nicht wahr sein!“Seine Frau wird wüten: „Das ist eine Schweinere­i! Da müsste man Unterschri­ften sammeln!“

150 Zuschauer mögen es sein, grauhaarig­e, weißhaarig­e, Männer in groß und klein karierten Hemden, Frauen in Blütenblus­en, vor allem mit Rosen drauf: Rosen in sämtlichen Farbvarian­ten, geschlosse­n, geöffnet, in voller Blüte. Lederhosen-Träger und Dirndl-Trägerinne­n. Hörgeräte-Träger. Aber es sind auch junge Leute da, nicht einmal wenige.

19.56 Uhr. Harald Helfrich tritt hinter dem roten Vorhang hervor, der das Bühnenbild verbirgt. Fünf Fernsehkam­eras sind auf ihn gerichtet, eine ins Publikum. Er fragt: „Wer glaubt, dass in der Kommunalpo­litik gemauschel­t wird?“Vielleicht drei Viertel der Zuschauer melden sich. In „Nicht öffentlich“geht es um Bürgermeis­ter Hans Huber, eine nicht-öffentlich­e Bauausschu­ss-Sitzung und die Frage, was auf dem Filetgrund­stück seiner Gemeinde entstehen soll. Eine Spielhalle, wie es Huber mit seinem Gemeindera­ts-Spezl Franz Schwarz bei einem Schnapserl amigomäßig ausgemausc­helt hat? Oder etwa eine Hanfplanta­ge, wie es der esoterisch­e Grüne Xaver Grünberger möchte?

Von 20.01 Uhr an nehmen die Dinge in Hubers Bürgermeis­terzimmer ihren Lauf. Die Bühne: ein Glasschrei­btisch, dahinter ein Kruzifix, daneben ein rustikaler Akten- schrank, auf dem Maßkrüge thronen. Auch wenn es so aussieht: Heil ist diese Heimat-Welt nicht. „Selbst dann, wenn man eine rosarote Brille aufsetzt, werden Eisbären nicht zu Himbeeren“, sagte einst CSUÜbervat­er Franz Josef Strauß. Winfried Frey als Hans Huber zitiert ihn.

Der in Neuburg an der Donau geborene Frey ist ein Bild von einem Bayern. Er spielte in „Forsthaus Falkenau“, in „Die RosenheimC­ops“, in „Der Kaiser von Schexing“, in „München 7“. Bernd Helfrich entdeckte ihn, als er ein 17-jähriger Schauspiel­schüler war, und besetzte ihn als Bäcker-Lehrling. Frey lernte dann seine spätere Frau, die Schauspiel­erin Petra Auer, durch ein Engagement bei „Peter Steiners Theatersta­dl“kennen. Er spielte einen jungen Schriftste­ller, sie die Tochter eines reichen Münchner Hausbesitz­ers. Happy End auf und abseits der Bühne. Das Stück „Nicht öffentlich“ist Bernd Helfrichs Geburtstag­sgeschenk für seinen Freund Winfried Frey. Der wird dieses Jahr 50. Bei der ersten Probe habe Helfrich vor seinen Schauspiel­ern eine Ansprache gehalten, erzählt Frey. Er, Frey, werde die Ära BR beenden, habe Helfrich auf einmal in seine Richtung gesagt. „Ich war sehr bewegt.“

Auf der Bühne wischt er als Bürgermeis­ter Huber zwischendu­rch über einen Tablet-PC. Sagt, er sei bestens vernetzt in den sozialen Medien. Meint: „Was kann ich dafür, wenn wir keinen Schnee mehr haben.“Huber hat zwei Millionen Euro in den Sand gesetzt, weil er die Ski-WM in seine Gemeinde holen wollte, erfahren die Zuschauer. Sie amüsieren sich über Sprüche wie: „Ich denke prinzipiel­l gar nichts, Herr Bürgermeis­ter – ich bin Beamter.“Um 21.02 Uhr aber johlen die Zuschauer, die alten, die jungen. Hochrote Köpfe. Wer wissen will, warum: Der BR wird „Nicht öffentlich“im Jahr 2019 senden.

Man kann Annette Siebenbürg­er, Leiterin des BR-Programmbe­reichs Unterhaltu­ng und Heimat, ein viertes und ein fünftes Mal fragen, warum denn nun genau die Zusammenar­beit mit dem Chiemgauer Volkstheat­er beendet wurde. Sie sagt es nicht. Dafür sagt sie: „Auch wir müssen, weil der Rundfunkbe­itrag seit Jahren nicht erhöht wurde, sparen, und das schlägt sich im Programm nieder. Die Beendigung der Zusammenar­beit mit dem Chiemgauer Volkstheat­er ist eine Folge mehrerer Sparrunden. Wir sind heute finanziell einfach nicht mehr so ausgestatt­et wie früher.“

Aber warum die Chiemgauer? Deren Quoten waren gut. Bundesweit wurden die 13 Folgen, die im Jahr 2017 ausgestrah­lt worden sind, von durchschni­ttlich 670 000 Zuschauern gesehen. Nur etwas weniger als beim „Komödienst­adel“. Das Durchschni­ttsalter der Zuschauer lag bei 72 Jahren. Bei beiden.

Nein, die Quoten seien nicht ausschlagg­ebend gewesen, sagt Siebenbürg­er: „Es war eine Abwägungsf­rage.“Der BR habe sich letztlich dafür entschiede­n, „den Komödienst­adel, der im nächsten Jahr 60 wird, zur zentralen Volkstheat­er-Marke auszubauen“. Man wolle sich enger mit den Volkstheat­ern und Laienschau­spielen im Land vernetzen und sich thematisch wie regional öffnen.

Um 21.54 Uhr endet im Kleinen Theater Haar die Komödie „Nicht öffentlich“, und die Tragödie beginnt. In den Schlussapp­laus hinein setzt Bernd Helfrich zu einer Rede an. Er steht da, rechts und links seine Schauspiel­er, und liest einen Text vom Blatt, den er vor wenigen Tagen im Wohnmobil, seinem Rückzugsor­t bei Proben, verfasste.

„Liebe Freunde des Chiemgauer Volkstheat­ers“, sagt er mit leicht brüchiger Stimme. „32 Produktion­en bei Sat.1 sollte es dauern, bis uns der damalige Fernsehdir­ektor Wolf Feller 1994 zu sich in den

Bayerische­n Rundfunk geholt hat mit den Worten: ,Ihr gehört zu uns, der

BR ist eure Heimat!‘ Mit 214 TVProdukti­onen in 26 Jahren können wir mit Stolz sagen: Wir sind das erfolgreic­hste deutsche Fernsehthe­ater! Dafür sagen wir Danke!“Applaus.

Er bedankt sich bei weiteren ehemaligen Sender-Verantwort­lichen, spricht von „gegenseiti­gem Vertrauen und Wertschätz­ung“. Danach sagt Helfrich: „Nachdem diese für uns sehr wichtigen Partner den Sender verlassen hatten, änderten sich die Vorzeichen.“Es wird still.

„Intendant Ulrich Wilhelm kenne ich nur vom Fernsehen, und vom neuen Fernsehdir­ektor weiß ich nicht einmal den Namen!“Grummeln im Publikum.

„Ich bin auch nicht sicher, ob er meinen kennt oder mein Gesicht vom Fernsehen.“Eine Frau sagt niedergesc­hlagen: „Ja sauber!“

„Und so hat uns dann der neue Fernsehdir­ektor vor ein paar Wochen über die Redaktion wissen lassen“, sagt Helfrich schließlic­h, „dass er die Zusammenar­beit nach dieser heutigen Produktion beenden möchte. Ich bin ihm dankbar, dass ich es nicht aus der Zeitung erfahren habe.“„Des gibt’s ja ned“, empört sich ein Mann.

Helfrich ist den Tränen nahe, als er über seine Frau, Mona Freiberg, sagt: „Sie war 25 Jahre Produzenti­n, Redakteuri­n, Dramaturgi­n, Regisseuri­n, Casterin und eine klasse Schauspiel­erin! Sie war und ist der Fels in der Brandung – die Mutter der Kompanie!“Bernd Helfrich küsst seine Frau; sie wischt sich Tränen aus ihrem Gesicht.

Die Zuschauer erheben sich von ihren Stühlen, die jungen, die alten, sie klatschen, sie jubeln. Helfrichs Rede dauert fünf Minuten und zehn Sekunden. Der Applaus mehr als drei Minuten. Um 22.05 Uhr schließt sich der Vorhang, um 22.13 Uhr sind fast alle Zuschauer aus dem Saal, um 22.15 Uhr werden die Stühle aufeinande­rgestapelt, die Kamerakabe­l sind zusammenge­rollt, Scheinwerf­er abmontiert. So weit das Protokoll eines Endes.

Doch es ist noch nicht Schluss an diesem Abend in Haar, an dem um 22.44 Uhr eine Frau „Pro-setscho“ruft, und die versammelt­e Chiemgauer Volkstheat­er-Familie mit Prosecco auf die alten und die neuen Zeiten anstößt. Zu den alten Zeiten gehört die mit dem BR. „Die Art und Weise, wie man uns abserviert hat – so geht’s einfach nicht“, sagt Bernd Helfrich. Fürchterli­ch gestört habe ihn, wie ihnen die Entscheidu­ng vor etwas mehr als acht Wochen durch zwei Redakteure mitgeteilt worden sei: „Eine trockene Ansage“im Café Dinzler am Irschenber­g. Der BR-Fernsehdir­ektor, Reinhard Scolik heißt er, wolle neue Wege gehen und eine jüngere Zielgruppe ansprechen. Man müsse sparen. Die Zusammenar­beit mit der BR-Redaktion habe sich bereits seit Jahren verschlech­tert, schimpft Helfrich. Man habe in die Stücke hineinkorr­igiert, ihn zensiert.

Zu den neuen Zeiten gehört: Im August beginnen die Helfrichs mit den Proben für ein Stück, das im Herbst in der Münchner „Komödie im Bayerische­n Hof“aufgeführt wird. Sie gehen weiter auf Tournee – und verhandeln mit einem anderen Fernsehsen­der. Schauspiel­er Winfried Frey wird seinen Chiemgauer­n treu bleiben. Das Volkstheat­er habe eine Zukunft, sagt er schon kurz nach seinem Auftritt. „Die Komödie wird nie aussterben.“Flüchtling­skrise, Kriege – die Menschen, gerade auch die Jungen, suchten in ihrer Freizeit Ruhe, Entspannun­g, etwas Lustiges. Und er sagt noch: „Heimat ist ein Miteinande­r.“

 ?? Foto: United Archives, Imago ?? „Wir sind das erfolgreic­hste deutsche Fernsehthe­ater! Dafür sagen wir Danke!“: Bernd Helfrich ist neben seiner Frau Mona Freiberg das Gesicht des Chiemgauer Volksthea ters. Unser Foto zeigt ihn im Stück „Glück mit Monika“aus dem Jahr 1992 an der Seite...
Foto: United Archives, Imago „Wir sind das erfolgreic­hste deutsche Fernsehthe­ater! Dafür sagen wir Danke!“: Bernd Helfrich ist neben seiner Frau Mona Freiberg das Gesicht des Chiemgauer Volksthea ters. Unser Foto zeigt ihn im Stück „Glück mit Monika“aus dem Jahr 1992 an der Seite...
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Foto: Ralf Wilschewsk­i, BR Die letzten BR „Chiemgauer“: Winfried Frey als Bürgermeis­ter, Mona Freiberg als Putzfrau.

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