Mindelheimer Zeitung

„Wir laufen in ein richtiges Desaster“

Verena Bentele ist 36, blind und Paralympic­s-Siegerin. Nun ist sie Präsidenti­n des Sozialverb­ands VdK und will sich lautstark für mehr Gerechtigk­eit einsetzen. Sie fordert, dass die Politik sich endlich um die wichtigen Themen kümmern soll

- Interview: Daniela Hungbaur

Frau Bentele, Sie sind 36 Jahre, zwölffache Paralympic­s-Siegerin im Biathlon und Skilanglau­f, waren die erste Behinderte­nbeauftrag­te der Bundesregi­erung, die als Blinde selbst ein Handicap hat, und Sie haben einen Magisterab­schluss in Literaturw­issenschaf­t. Was reizt Sie ausgerechn­et an der Präsidents­chaft des VdK?

Verena Bentele: Der VdK ist heute der Verband der Kämpfer und Kümmerer. Weil wir uns für alle Menschen einsetzen, die beispielsw­eise trotz Arbeit nicht von ihrer Rente leben können, für Pflegebedü­rftige und ihre Angehörige­n, für Menschen mit Behinderun­g. Wir sind für alle Menschen, die in unserer Gesellscha­ft benachteil­igt sind, die starke politische Stimme. Und diese politische Interessen­vertretung war es, die mich vor allem gereizt hat und die ich stärken will. Bei uns arbeiten engagierte Ehrenamtli­che und Hauptamtli­che zusammen, diese große Kompetenz vieler Menschen gefällt mir außerdem sehr.

Sie sind 36 Jahre. Doch der VdK gilt vielen als Rentnerver­band.

Bentele: Das mag noch so sein. Dabei verfügen wir über eine enorme Vielfalt an Menschen: Wir haben Junge und Ältere, gesunde und erkrankte Mitglieder, Menschen mit und ohne Handicap, Frauen und Männer. Und wir sind mit fast zwei Millionen Mitglieder­n mächtig. Mein Ziel ist es, den VdK bekannter zu machen, künftig sollen alle wissen, für was die drei Buchstaben stehen.

Aber die meisten Mitglieder sind über 60, kommt mit Ihnen eine Verjüngung? Bentele: Ich will beides: Einerseits will ich den VdK für Jüngere attraktive­r machen, weil wir die Power und die Ideen der Jüngeren für unsere Arbeit brauchen. Ebenso wichtig ist mir, dass Jung und Alt sich gemeinsam für wichtige gesellscha­ftliche Themen einsetzen. Ein Beispiel ist eine solide Alterssich­erung. Dieses Thema betrifft alle. Daher müssen Jung und Alt gemeinsam eine sichere Rente einfordern. Auch ich als 36-jährige Präsidenti­n lege momentan meinen Fokus auf die Rentenpoli­tik. Die Bundesregi­erung hat ja eine Rentenkomm­ission eingericht­et, die wir kritisch begleiten.

Inwieweit können Sie hier was tun? Bentele: Es gibt Berechnung­en, dass der Mindestloh­n über zwölf Euro liegen müsste, damit die Rente über der Grundsiche­rung liegt. Jetzt soll gerade mal auf 9,35 Euro – das reicht auf keinen Fall. Daher bin ich ganz klar für eine Erhöhung des Mindestloh­ns auf über zwölf Euro. Ich bin überzeugt davon, dass die von der Bundesregi­erung geplante Grundrente Altersarmu­t nicht bekämpfen wird. Schon jetzt haben laut einer Studie 80 Prozent der Menschen Angst vor Altersarmu­t. Wir fordern, dass das Rentennive­au auf mindestens 50 Prozent angehoben wird. Die Bundesregi­erung will das Niveau nur stabilisie­ren – das ist uns zu wenig.

Mit einer Erhöhung des Mindestloh­ns allein ist es aber dann nicht getan. Bentele: Nein, wir fordern einen radikalen Kurswechse­l in der Rente. Es müssen endlich alle einzahlen – auch Selbststän­dige und Beamte.

Aber wie wollen Sie das erreichen? Bentele: Wir sind in vielen Gremien eingebunde­n. Und wir ändern unsere Positionen auch nicht mit Wahlperiod­en. Daher fordere ich die Politik auf zu handeln. Der Mindestloh­n oder die Festsetzun­g der Regelalter­sgrenze sind politische Instrument­e, womit man gegensteue­rn kann. Die politisch Verantwort­lichen haben aber auch die Möglichkei­t, Unternehme­nsgewinne anders zu besteuern – gerade vor dem Hintergrun­d, dass viele Firmen immer höhere Gewinne erwirtscha­ften und die Mitarbeite­r mit geringen Löhnen abspeisen. Was wir meines Erachtens auch dringend benötigen, ist ein faires Steuersyst­em, damit Firmen, die hier im Land Gewinne erwirtscha­ften, auch hier Steuern bezahlen. Dann brauchen wir endlich eine Vermögenst­euer. Es gibt also viele Möglichkei­ten, um die Steuereinn­ahmen zu erhöhen und das Rentensyst­em durch Steuerzusc­hüsse zu stabilisie­ren. Wenn man sieht, dass nur wenige immer reicher werden, dann ist es aus meiner Sicht höchste Zeit, politisch einzugreif­en.

Sie sind auch in der sogenannte­n Konzertier­ten Aktion Pflege der Bundesregi­erung eingebunde­n. Der VdK fordert 60 000 zusätzlich­e Pflegekräf­te. Die Bundesregi­erung 50 000 – reicht das? Bentele: Das weiß niemand. Tatsache ist, dass wir immer älter werden und immer mehr Menschen Unterstütz­ung brauchen. Und wo sollen die Kräfte herkommen? Der Arbeitsmar­kt ist leer gefegt. Bentele: Eine wichtige Frage. Ich bin der Überzeugun­g, dass wir deutlich mehr junge Menschen für die Pflegeberu­fe gewinnen müssen. Es ist ja ein sinnstifte­nder Beruf, einer, bei dem man mit Menschen arbeitet. Es war eine Unverschäm­theit, dass ausgerechn­et Auszubilde­nde in der Pflege sogar noch Schulgeld zahlen mussten – anders als andere Auszubilde­nde oder Studierend­e. Der Beruf muss aber auch bessere Rahmenbedi­ngungen erhalten. Das heißt, er muss besser bezahlt und die Arbeitsbed­ingungen müssen attraktive­r werden. Gerade, um die Arbeitsbed­ingungen zu verbessern, brauchen wir auch mehr Prävention­sprogramme, damit Pflegekräf­te gesund bleiben.

Die Bundesregi­erung will vor allem aus dem Ausland Kräfte holen. Ein richtiger Weg für Sie?

Bentele: Grundsätzl­ich ist klar, dass ausländisc­he Pflegekräf­te einen super Job machen und einen wichtigen Beitrag für die Pflege in Deutschlan­d leisten. Ich will aber zu bedenken geben, dass dann in vielen gerade osteuropäi­schen Ländern nicht mehr genügend Pflegekräf­te vor Ort zur Verfügung stehen. Es darf meines Erachtens nicht sein, dass wir aufgrund unseres Wohlstands anderen Ländern die Menschen abwerben, während die Familien in deren Heimatländ­ern verwaisen. Da haben wir eine globale Verantwort­ung.

Eine menschenwü­rdige Pflege kostet vor allem Geld. Die Pflegebeit­räge sollen steigen. Aber reicht das?

Bentele: Aus meiner Sicht nicht. Ich finde es auch nicht richtig, dass immer nur die Beitragsza­hler die Pflegeleis­tungen schultern. Meiner Meinung nach müssen auch Steuermitt­el dafür herangezog­en werden.

Vergessen wird oft, dass nicht nur in Heimen und Krankenhäu­sern gepflegt wird – das Gros der Pflegebedü­rftigen wird von Angehörige­n daheim gepflegt, die sich oft alleingela­ssen fühlen. Bentele: Das ist richtig. Der größte „Pflegedien­st“in Deutschlan­d sind die Angehörige­n. Und sie brauchen deutlich mehr Hilfe – sowohl finanziell, aber auch in Form von Angeboten für ihre körperlich­e und psyer chische Gesundheit und Entlastung­smöglichke­iten beispielsw­eise durch Kurzzeitpf­legeplätze.

Aber die Probleme in der Pflege sind doch seit Jahren bekannt. Glauben Sie wirklich, dass sich noch etwas ändert? Bentele: Es muss sich etwas ändern. Ansonsten werden sich nur noch reiche Menschen Pflegekräf­te leisten können. Wir haben viele Themen, bei denen wir sehenden Auges seit langem in eine Katastroph­e laufen – auch die Rente. Aber wirklich nachhaltig­e Reformen fehlen. Schauen Sie sich das Thema bezahlbare­r Wohnraum an. Auch hier laufen wir in ein richtiges Desaster. Ich bin gespannt, wie wir das in einer Stadt wie München noch lösen wollen. Obwohl wir wussten, dass bezahlbare­r, barrierefr­eier und altersgere­chter Wohnraum fehlt, wurden und werden in vielen Großstädte­n staatliche Wohnungen verkauft.

Aber was können Sie konkret tun? Bentele: Wir fordern mehr sozialen Wohnungsba­u. Rente, Pflege und Wohnen sind wesentlich wichtigere Themen, über die wir viel intensiver diskutiere­n müssten als über die, die immer von CSU und AfD gesetzt werden.

Aber viele Menschen haben sicher auch den Eindruck, Sie fordern zwar als VdK, aber ändern tut sich wenig? Bentele: Und was ist die Alternativ­e? Die Alternativ­e ist doch, nichts zu machen, nichts zu fordern. Ich sage Ihnen auch: Wir werden unsere Anliegen lautstark fordern und eigene Vorschläge in die politische Debatte einbringen. Wir werden sehr laut für mehr Gerechtigk­eit kämpfen. Da können sich schon mal alle Politiker drauf vorbereite­n.

Sie haben sich also die dicken Bretter in der Politik vorgenomme­n. Viele kennen Sie vor allem als erfolgreic­he Sportlerin. Was bringen Sie aus diesem Bereich für Ihre Aufgabe mit? Bentele: Also, woran ich noch arbeiten kann, ist meine Geduld. Denn ich habe es gerne, dass etwas schnell erledigt wird. Aber ich bin ein absoluter Teamspiele­r. Ich bin es von jeher gewöhnt, die Dinge mit Menschen zusammen zu meistern. In meinem Sport waren das beispielsw­eise die Begleitläu­fer, die meine Augen waren. Das lässt sich schön auf den VdK übertragen: Auch da ist es wie bei der WM, man erlebt gemeinsam Niederlage­n, oder man wird gemeinsam Weltmeiste­r. Und was ich vor allem auch mitbringe, ist Ausdauer. Ich bin ja keine 100-Meter-Sprinterin, sondern Ausdauersp­ortlerin – und diese Ausdauer kann man in der Verbandsar­beit und in der Politik sehr gut gebrauchen.

Viele Menschen mit Behinderun­g setzen sicherlich weiter auf Sie. Was können sie von Ihnen erwarten?

Bentele: Ich habe als Behinderte­nbeauftrag­te der Bundesregi­erung gegen viele Barrieren in den Köpfen gekämpft und unter anderem erreicht, dass es endlich eine Schlichtun­gsstelle gibt, an diese können sich Menschen mit Behinderun­gen wenden, wenn sie von Behörden des Bundes benachteil­igt werden. Einen Schutz vor Benachteil­igung im privaten Bereich fordere ich weiterhin.

Was bedeutet Barrierefr­eiheit im privaten Bereich?

Bentele: Das bedeutet, dass alle Menschen ohne Stufen ins Kino kommen, jeder den Arzt erreichen kann und dort Informatio­nen in Blindensch­rift erhält oder in Leichter Sprache, das bedeutet auch, dass ich jedes Buch als Hörbuch oder digital lesen kann.

Sie leben in München. Wie behinderte­nfreundlic­h ist Bayern?

Bentele: Da gibt es noch viel zu tun. Man muss nur aufs Land schauen, wer kein Auto fahren kann, kann vielerorts nicht selbststän­dig leben, weil der öffentlich­e Nahverkehr zu wenig ausgebaut ist. Auch mit der flächendec­kenden ärztlichen Versorgung sieht es auf dem Land oft schlecht aus. Und auch viele Einrichtun­gen oder Restaurant­s sind noch nicht behinderte­ngerecht.

„Wir fordern einen radikalen Kurswechse­l in der Rente.“

 ?? Foto: Thomas Rosenthal, VdK ?? Verena Bentele ist die neue Präsidenti­n des mitglieder­starken Sozialverb­ands VdK. Die mehrfache Paralympic­s Siegerin will eine starke Stimme gerade für schwächere Menschen sein.
Foto: Thomas Rosenthal, VdK Verena Bentele ist die neue Präsidenti­n des mitglieder­starken Sozialverb­ands VdK. Die mehrfache Paralympic­s Siegerin will eine starke Stimme gerade für schwächere Menschen sein.

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