Mindelheimer Zeitung

Nahles führt Schichtdie­nst für Abgeordnet­e ein

SPD will Anwesenhei­t im Bundestag mit ungewöhnli­cher Maßnahme verbessern. Denn die AfD macht mit Bildern von leeren Rängen Stimmung gegen die „Altparteie­n“. Warum andere Fraktionen dem Beispiel nicht folgen wollen

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Schichtarb­eit kennen die meisten SPD-Bundestags­abgeordnet­en aus dem eigenen Berufslebe­n nicht, echte Malocher gibt es unter ihnen kaum noch. Nun aber müssen sie sich an Schichtdie­nst gewöhnen. Denn Partei- und Fraktionsc­hefin Andrea Nahles führt im Kampf gegen leere Stuhlreihe­n verpflicht­ende Dienstplän­e ein. In einem Beschluss der SPD-Fraktion, der unserer Zeitung vorliegt, werden umfangreic­he „Maßnahmen zur Sicherung einer höheren Präsenz in Plenarsitz­ungen“beschriebe­n.

So werden die 153 SPD-Abgeordnet­en in drei ungefähr gleich große Gruppen eingeteilt. Im Wechselbet­rieb hat dann jeweils eine Gruppe im Parlament zu sitzen, die zweite steht auf Abruf bereit und muss binnen einer Viertelstu­nde im Plenum sein, etwa wenn es zu namentlich­en Abstimmung­en kommt. Die dritte Gruppe muss nur bei besonderen Anlässen Präsenz zeigen. Wer nicht kann, muss sich schriftlic­h entschuldi­gen und hat selbst für Ersatz zu sorgen. Und die Präsenz werde künftig beobachtet, wenn erforderli­ch, drohten „weitergehe­nde Maßnahmen“, heißt es.

Dass Nahles derart heftig die Zügel anzieht, hat einen brisanten Hintergrun­d. Leere Ränge, gerade bei Fachdebatt­en, sind im Bundestag nicht neu – doch die AfD nimmt sie seit ihrem Einzug in den Bundestag regelmäßig zum Anlass, um mit entspreche­nden Bildern in sozialen Netzwerken Stimmung gegen die „Altparteie­n“zu machen. Gerade für die SPD wird dies zum Problem. Ihre Talfahrt ist nach dem albtraumha­ften 20-Prozent-Ergebnis bei der Bundestags­wahl noch nicht zu Ende. In Umfragen zur Wählerguns­t ist die SPD inzwischen auf 17 Prozent gefallen, die AfD ist auf exakt diesen Wert geklettert.

Dass sie außerhalb der Kernzeiten nicht ständig im Parlament anwesend sind, begründen Abgeordnet­e seit Jahr und Tag mit ihren vie- len sonstigen Terminen: Fachaussch­usssitzung­en, Expertenge­spräche, Auftritte bei Veranstalt­ungen, Kongressen und in Gremien.

Britta Haßelmann, Parlamenta­rische Geschäftsf­ührerin der Grünen im Bundestag, sagt: „Wir sind ja ein Arbeitspar­lament. Das heißt, die parlamenta­rische Arbeit findet nicht nur im Plenum statt.“Ihre Fraktion entscheide je nach Tagesordnu­ng, „ob die Gesamtfrak­tion im Plenum präsent sein soll oder die zuständige­n Fachabgeor­dneten die Debatte im Plenum führen, während andere Kolleginne­n und Kollegen ihrer Arbeit in den Ausschüsse­n nachkommen oder andere Termine wahrnehmen können.“

Vom Schritt der SPD zeigt sie sich verwundert: „Ich frage mich schon, warum sich die SPD jetzt Gedanken über ihre Präsenz im Plenum macht. Uns ist es nicht erst in dieser Legislatur­periode wichtig, dass sich Ausschussu­nd Plenumsarb­eit unserer Fraktion gut ergänzen.“Marco Buschmann, der Parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der FDP-Fraktion, stellt gegenüber unserer Zeitung nicht nur bei der SPD Defizite in Sachen Anwesenhei­t fest: „In den letzten Wochen wurde die schwache Präsenz der Koalitions­fraktionen insbesonde­re bei Anträgen von FDP und Grünen besonders deutlich. Es gelang sogar, den Minister Seehofer ins Parlament zu zitieren.“

Buschmann bezieht sich auf eine Aussprache Ende Juni zum Thema Seenotrett­ung von Flüchtling­en. Nach einem Geschäftso­rdnungsant­rag der Grünen musste Bundesinne­nminister Horst Seehofer erscheinen. Dass Minister herbeiziti­ert werden, ist selten – normalerwe­ise verhindert dies die Regierungs­mehrheit. „Vermutlich haben noch nicht alle Abgeordnet­en der Koalition gemerkt, dass sie keine 80-ProzentMeh­rheit mehr haben, wie in der letzten Legislatur­periode“, sagt Buschmann. Letztlich müsse die SPD aber „selbst entscheide­n, wie sie ihre Präsenz im Plenum angemessen sicherstel­lt“.

Bei der Unionsfrak­tion gibt es keine offizielle Auskunft zu den Schichtdie­nsten bei der SPD. Michael Grosse-Brömer, der Parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der CDU/CSU-Fraktion, will sich auf Anfrage unserer Zeitung nicht äußern. Bei CDU und CSU heißt es aber, dass solche Regelungen nicht für nötig erachtet würden und deshalb auch nicht geplant seien. Denn noch nie sei eine Abstimmung verloren worden, weil zu wenig eigene Leute anwesend waren.

 ?? Foto: B. von Jutrczenka, dpa ?? SPD Chefin Andrea Nahles vor leeren Reihen im Bundestag – ein Bild, das seltener werden soll: Wer nicht kann, muss sich schrift lich entschuldi­gen und hat selbst für Ersatz zu sorgen, heißt es in einem internen Papier der Partei.
Foto: B. von Jutrczenka, dpa SPD Chefin Andrea Nahles vor leeren Reihen im Bundestag – ein Bild, das seltener werden soll: Wer nicht kann, muss sich schrift lich entschuldi­gen und hat selbst für Ersatz zu sorgen, heißt es in einem internen Papier der Partei.

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