Mindelheimer Zeitung

Der Bewunderer des Körperlich­en

Die Staatsgale­rie Stuttgart zeigt Ernst Ludwig Kirchner als vielseitig­en, selbstbewu­ssten Avantgarde­künstler. Und als einen Meister der Camouflage. Sogar sein Nachlass wurde unter einem falschen Namen veräußert

- VON ALOIS KNOLLER

Stuttgart Er war ein Meister im Legen falscher Fährten. Der beste Kenner des künstleris­chen Werkes von Ernst Ludwig Kirchner (1880 bis 1938) sollte ein gewisser Louis de Marsalle sein. Doch hinter dem Namen verbarg sich niemand anderer als der „Brücke“-Maler selbst. Ziemlich unverblümt hatte er einem zeitgenöss­ischen Kunstkriti­ker erklärt, dass jener keine Ahnung habe von seinen Überlegung­en und Motiven, die ihn beim Malen leiten. Also schrieb Kirchner lieber selber über Kirchner. Als Louis de Marsalle wusste er bestens Bescheid darüber, was den selbstbewu­ssten Avantgarde­künstler wirklich bewegte.

Die Camouflage durchzieht jetzt die große, das gesamte Lebenswerk umfassende Kirchner-Ausstellun­g der Staatsgale­rie Stuttgart. Erstmals seit 1980 präsentier­t das Museum wieder seinen kompletten Bestand, ergänzt durch einige Dauerleihg­aben aus einer Privatsamm­lung. Im 80. Todesjahr des rastlos schaffende­n Künstlers präsentier­t die Graphische Sammlung des Hauses ihren großen Schatz von 82 Zeichnunge­n sowie 84 Druckgrafi­ken und elf illustrier­ten Büchern von Ernst Ludwig Kirchner.

Schon in den Zwanzigerj­ahren hatte der damalige Direktor begonnen, Druckgrafi­k von Kirchner, der seit 1918 in einem Älpler-Haus in Davos wohnte, zu erwerben. Allerdings wurden sie im Dritten Reich 1937 als „entartet“beschlagna­hmt. Der Aufbau begann nach dem Krieg neu, vor allem gehörte dazu ein 1957 erworbenes Konvolut mit 143 Zeichnunge­n und Grafiken, das aus der „Sammlung Dr. Gervais Zürich/ Lyon“stammen sollte. Doch diesen Sammler gab es gar nicht.

Forschunge­n der Staatsgale­rie Stuttgart ergaben, dass alle Blätter aus dem Nachlass des Künstlers selbst stammen. Dr. Gervais war offenbar eine Erfindung des KirchnerSc­hülers Christian Laely, um die Werke trotz schweizeri­scher Vermögenss­perre nach Deutschlan­d verkaufen zu können. Es ist mithin „die unbekannte Sammlung“, worauf die Ausstellun­g den Blick richtet und die Faszinatio­n und Sinnlichke­it erfahren lässt, die für Kirchner in der Kunst der Grafik lag.

Zeitlebens fesselt den Künstler die Körperlich­keit des Menschen. Meistens zeigt er ihn nackt, jedoch wohnt seinen Akten weniger eine erotische Komponente inne – trotz etlicher Bordellsze­nen – als vielmehr die Bewunderun­g der Natürlichk­eit, weshalb er die Körper oft in Landschaft­en einbettete. Perfekt ist dies gelungen im großformat­igen Gemälde des Strandlebe­ns an den Dünen auf Fehmarn. Badende sind

ein Lieblingsm­otiv von ihm, vielfach variiert er das spielerisc­he Tun am Wasser. Erste gestalteri­sche Versuche sind noch dem Jugendstil verhaftet, doch unter dem Eindruck des Tanzes ließ Kirchner vom Dekorative­n ab. Der Körper in Bewegung fordert rasches Skizzieren. Kirchner bannt in wenigen Strichen die Szene, und das Fiebrige bleibt auch in seinen Ausarbeitu­ngen mit der Farbkreide oder im Holzschnit­t erhalten. Meist setzt er kantige Konturen, fast schon in der Art von Comics. Das Realistisc­he hat er hinter sich gelassen, das Wesentlich­e will er zeigen.

Dabei kommen Arbeiten heraus, skizzenhaf­t überlängt wie Modezeichn­ungen im Fall der „Kokotte“Motive, aber auch mehrfach überlagert aus verschiede­nen Perspektiv­en – als wär’s ein Blatt von Picasso. Doch beanspruch­t Kirchner Originalit­ät und Modernität im Bewusstsei­n, dass seine Zeitgenoss­en seine Bilder nicht verstehen würden.

Ernst Ludwig Kirchner hatte Ateliers mal in Dresden, mal in Berlin. 1915 geriet er infolge einer psychische­n Erkrankung in die Krise. Er zog sich die Schweizer Bergwelt zurück. Ruhige Bilder vom Sennleben auf der Alpe, von Bergtälern und Bergwald entstanden. Allmählich wurde sein Themenspek­trum wieder breiter. Kirchners „neuer Stil“zeigte rundere Formen und eine geschlosse­nere Überschnei­dung und Durchdring­ung der Körper. Isoliert vom deutschen Kunstbetri­eb erschoss er sich am 15. Juni 1938 in Davos aus Furcht vor den Nazis.

 ?? Fotos: Staatsgale­rie Stuttgart ?? Die Körperlich­keit fasziniert­e Ernst Ludwig Kirchner, und er skizzierte sie mit wenigen Strichen – wie hier sein Blatt „Drei Akte im Grünen“, 1911, in Bleistift und Aquarell auf Papier.
Fotos: Staatsgale­rie Stuttgart Die Körperlich­keit fasziniert­e Ernst Ludwig Kirchner, und er skizzierte sie mit wenigen Strichen – wie hier sein Blatt „Drei Akte im Grünen“, 1911, in Bleistift und Aquarell auf Papier.
 ??  ?? Selbstport­rät 1932, Farbholzsc­hnitt in Schwarz, Blau, Rot, Rotbraun und Ocker.
Selbstport­rät 1932, Farbholzsc­hnitt in Schwarz, Blau, Rot, Rotbraun und Ocker.
 ??  ?? „Rote Kokotte“, 1914 in Farbkreide, Tempera und Weißhöhung.
„Rote Kokotte“, 1914 in Farbkreide, Tempera und Weißhöhung.
 ??  ?? Der Kunstkriti­ker Will Grohmann, 1924, Farbholzsc­hnitt in Schwarz und Rot.
Der Kunstkriti­ker Will Grohmann, 1924, Farbholzsc­hnitt in Schwarz und Rot.

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