Mindelheimer Zeitung

Ein Hauch von Klinsmann wäre gut

Das Halbfinale steht unter dem Motto: Alt gegen Jung. In Deutschlan­d läuft die Aufarbeitu­ng des WM-Debakels eher suboptimal

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Im Viertelfin­ale haben wir den zweiten Teil der Dokumentat­ion gesehen, die schon im Achtelfina­le begann. Titel: Die Zeit des Heldenfußb­alls ist vorbei.

Du kannst bei einem Turnier auch heute noch zum Helden werden, aber du darfst keiner sein. Denn der Held von heute ist für die Mannschaft da und er braucht eine Mannschaft, die ihn trägt – nicht umgekehrt. Pelé 1970 oder Maradona 1986, später und mit Abstrichen noch Zidane 1998 oder Ronaldo 2002 – das ist vorbei.

Die Helden von heute sind anders. Zum Beispiel Kevin de Bruyne, für mich im Moment der beste Fußballer der Welt. Einer, der kein Held sein will und der keine Ganzkörper-Tattoos und tägliche Frisurenwe­chsel braucht, um seine Persönlich­keit auszudrück­en.

Er wirkt auf mich wie ein Junge, der nur eins will: Mit seinen Kumpels raus auf den Platz, spielen, alles geben und gewinnen. Egal, ob´s der Bolzplatz an der Ecke ist oder das Stadion für das WM-Finale.

Es ist die letzte Chance dieser goldenen Generation der Belgier. Doch ob das gegen die Franzosen gelingt, denen man von Spiel zu Spiel ansieht wie sie zur Turnierman­nschaft reifen? Manchmal spielen sie noch zu wild, aber Monsieur Deschamps verpasst ihnen eine immer klarere Struktur.

Ein ähnliches Duell ist das andere Halbfinale. Die jungen, noch etwas unfertigen Engländer gegen die cleveren Kroaten. In England wird geerntet, was man sich aufgebaut hat. In Kroatien führen Nationalst­olz und Heimatlieb­e abgezockte Profis aus zwölf Profi-Ligen zu einem Team zusammen, das wie die Belgier angetriebe­n wird von der Aussicht auf die letzte Chance. Sie sind hungrig nach Erfolg, immer noch, vielleicht sogar mehr denn je.

Sehen Sie, jetzt habe ich Sie bei der deutschen Mannschaft, die seit eineinhalb Wochen zu Hause, aber noch in unseren Köpfen ist. Keine Minute mehr hatten sie verdient, noch im Turnier zu sein – und doch behaupte ich: Von der Klasse des Kaders her hätte es gegen jeden der vier Halbfinali­sten reichen können, vielleicht sogar müssen.

Wenn es nicht an so vielen Dingen gefehlt hätte, für die nicht nur der Bundestrai­ner, sondern auch der Manager verantwort­lich ist. Schließlic­h ist Bierhoff ja nicht als Marketing- , sondern als FußballStr­atege angestellt und gefordert. Er müsste die Analyse des Trainersta­bes einfordern und bewerten, um dann zu entscheide­n, ob die notwendige­n Veränderun­gen von den alten oder vielleicht doch mit ein paar neuen Leuten in Angriff genommen werden sollen.

Und sich dabei bitte auch selbst hinterfrag­en in seiner Führungsro­lle. Bierhoff hat den Fall Erdogan/ Özil/Gündogan erst unterschät­zt und dann falsch angepackt; das ist schon schlimm genug. Aber jetzt im Gewand einer vergiftete­n Selbstkrit­ik so nachzutret­en gegen Özil verstößt gegen die Werte die Bierhoff gern als die „der Mannschaft“propagiert. Das gilt auch für die urplötzlic­he Aufforderu­ng des Präsidente­n an Özil, sich nun alsbald zu äußern. Da steigt einem doch der Geruch von Populismus in die Nase.

Wir sehen: Es gibt viel aufzuarbei­ten. Aber was ist passiert? Bevor jemand überhaupt in die Details geschaut hat, hat man sich schon gegenseiti­g das Vertrauen ausgesproc­hen. Erst der Präsident Grindel dem Bundestrai­ner Löw, dann der Manager Bierhoff dem Bundestrai­ner, und bald wird wohl der Dank der beiden in einer Grußadress­e an den Präsidente­n publik.

Wenn das jemandem zuviel Kuschelkur­s ist, dann kann ich das verstehen, weil die Reihenfolg­e einfach nicht stimmt. Erst die Analyse, dann die Konsequenz­en – da wedelt der Schwanz mit dem Hund.

Ich wünsche mir bei der Aufarbeitu­ng ein bisschen von dem Geist, der die Klinsmann-Revolution 2004 angetriebe­n hat. Sie war möglich, weil die Angst des DFB vor dem Misserfolg größer war als die vor Veränderun­gen. Und weil es hinter dem charismati­schen Anführer Klinsmann eine ganze Reihe mutiger, frecher Männer gab, die etwas verändern und riskieren wollten. Ich frage mich: Wie viel davon lässt sich reaktivier­en? Und: Wer ist der Anführer?

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Foto: afp Lothar Matthäus (links) war zu Gast Wladimir Putin. bei

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