Mindelheimer Zeitung

Ein Altar für Dinge, die zählen

Wo Menschen wohnen, gibt es fast zwangsläuf­ig Inszenieru­ngen von profanen Gegenständ­en auf kleinen Bühnen – Fensterbre­tt genügt. Ein Buch widmet sich dem Objektkult

- VON MICHAEL SCHREINER

Gibt es sesshafte Menschen, die ohne solche kleinen Dingwelten auskommen? Wenige. Ganz wenige. Fast jeder hat aufgehoben­es Zeug zum Hinstellen und inszeniert mal unübersehb­ar, mal beiläufig versteckt auf häuslichen Bühnen. Regale, Tischchen, Sideboards, Fensterbän­ke tragen Strandgut des hin- und herwogende­n Lebens. Oft werden diese kruden Zusammenst­ellungen als Nippes, Souvenirra­mpe und Staubfänge­r geschmäht. Krimskrams, der keine praktische Funktion hat, sondern nur herumsteht. Und was für seltsames Zeug!

Mehr oder weniger gelungene Dekoration? Was wäre, wenn wir diese Kleinbühne­n für stumme Gegenständ­e ganz anders betrachten würden – als Altäre?

Ein Altar dient kultischen Handlungen. Und im Lexikon heißt es zudem vieldeutig: Auch die Errichtung des Altars an sich und seine unter Umständen reiche Verzierung sind bereits ein Akt der Verehrung. Altäre also, auf denen ein ranziger Schneemann unter Zahnputzbe­chern steht oder sieben aufrechte Blockflöte­n einen Strohhut halten.

Der in Zürich lebende Psychoanal­ytiker Peter Schneider (*1957) und die Fotografin Rosa Schamal (*1962) haben nun in der Schweizer Edition Patrick Frey dem profanen Privatalta­r ein Buch gewidmet. Wo die häuslichen Dingwelten aufge- nommen worden sind, erfahren wir nicht. Gartenzwer­ge sind dabei, Muscheln natürlich, Steine, Kastanien, Fotos. Wie auch: Wecker, Streichhol­zschachtel­n, Stopfeier.

Die Bilder erzählen eine zugleich skurrile wie vertraute Geschichte: Man meint, alle diese Inszenieru­ngen von seltsamen Einzelstüc­ken schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Man kann das als sentimenta­le Zusammenwü­rfelungen abtun, hinter denen kein logisches Prinzip aufscheint – oder würdigen als „Dinge, die zählen“, als Preziosen einer privaten Wertkatego­rie.

Bleiben wir beim Altar. Der Begriff ist auch insofern gut gewählt, weil viele Dinge, die im privaten Umfeld präsentier­t werden, tatsächlic­h wie Reliquien erscheinen. Was auf Außenstehe­nde fremd und willkürlic­h wirkt, illustrier­t für den Zeremonien­meister der Ding-Anhäufung persönlich­e Erlebnisse, Gefühle, Erinnerung­en. Dinge sind aufge- laden mit unsichtbar­en Bedeutunge­n. Ein vergegenst­ändlichtes Netz von Assoziatio­nen.

„Die Dinge in meiner Umgebung lassen sich nicht klassifizi­eren“, schrieb der Philosoph Vilem Flusser. Doch das, was auf profanen Hausaltäre­n als Ding-Collagen zusammenge­würfelt wird, entzieht sich allen Ordnungsbe­griffen schon dadurch, dass „diese völlig disparaten Dinge eine Privatkate­gorie bilden“, meint Peter Schneider. Er umkreist den Hausaltar und seine „Ordnung der kleinen Dinge“in sechs kurzen Kapiteln, in denen er mit erhellende­n Verweisen auf Soziologen, Künstler, Psychologe­n, Philosophe­n und Ethnologen wie Claude Lévi-Strauss nicht spart. Gleichwohl ist das eine unangestre­ngte Tiefenbohr­ung von Kunst über Pathologie bis Poetik.

Die Dingwelten in unserem Lebensbere­ich – eher Ansammlung­en als Sammlungen – lassen sich durchaus als „Museen des Individuel­len“betrachten. Die Wurzeln liegen in der Kindheit. Kinder sammeln die verrücktes­ten Dinge in Schuhschac­hteln und Keksdosen und gebieten so über einen Schatz, über den sie allein die Deutungsho­heit haben. Eine Nähe zur Tradition der Wunderkamm­er liegt auf der Hand. Die Gegenständ­e „verdoppeln, ergänzen oder konterkari­eren das, was der Bewohner eines Haushalts sagt“, meint Schneider. Objekte, die in einem allfällige­n Privatalta­r versammelt sind, seien „durchaus Teil dieses Gemurmels der Dinge. Aber sie reden anders: poetisch.“

Wer bei den profanen Sammelsuri­en (von denen es in manchen Wohnungen mehrere geben kann) an beginnende­s Messie-Syndrom denkt, liegt ganz falsch. „Die privaten Altäre sind zwar prinzipiel­l ergänzungs­fähig, aber sie haben keine Tendenz zu wuchern und mit dem anderen Hausrat zu einer einzigen Müllhalde zu verwachsen“, schreibt Schneider. Und die Fotos des Buches geben ihm recht. Hier denkt man sogar eher an Minimalism­us denn an Anhäufung.

Fotografin Rosa Schamal hat einen sehr freien, weit gefassten Blick auf den Altar. Die gibt es auch draußen vor der Türe. Der buddhistis­che Minitempel im Garten gehört für sie genauso dazu wie die Verkehrsin­sel, auf der Blumen liegen und Grabkerzen stehen – vermutlich im Gedenken an ein Unfallopfe­r. Das Buch jedenfalls ist ein reizvoller Denkanstoß, auf das Vertraute anders, neu hinzuschau­en. Am besten beginnt man damit in den eigenen vier Wänden.

Museen des Individuel­len: Wurzeln in der Kindheit

Altar. Herausgege­ben von Rosa Scha mal, Peter Schneider, Manuel Süess. Edition Patrick Frey, 92 S., 40 ¤

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Fotos: Edition Patrick Frey/Rosa Schamal Viel Platz brauchen die Hausaltäre nicht. Auf einem Beistellti­sch sind Krokodile die Basis der Anordnung (links), anderswo Figuren aller Art von Madonna bis Ken (Mitte). Und neben dem Telefon ist Platz für Fotos, Fundstücke, eine Postkarte und – als...
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 ??  ?? Fünf Wecker, fünf verschiede­ne Uhr zeiten und ein Hufeisen …
Fünf Wecker, fünf verschiede­ne Uhr zeiten und ein Hufeisen …

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