Im Zwischenreich
Der US-Autor legt eine Nachtschicht über Gräbern ein – mit dem toten Sohn Abraham Lincolns
Februar 1862: Während im Bürgerkrieg Menschen sterben, gibt der amerikanische Präsident Abraham Lincoln einen Abendempfang in seinem Haus in Washington. Die Tische biegen sich unter den Köstlichkeiten, die für die Gäste aufgefahren werden. Eine Vollmondnacht, es wird spät. Oben in seinem Zimmer liegt Willie, der elfjährige Sohn Lincolns, im Delirium. Er stirbt. Ein schwerer Schlag für Abraham Lincoln. In der Nacht nach der Beisetzung des geliebten Sohnes sucht Lincoln den Friedhof auf – allein. Er geht in die Gruft, öffnet den Sarg, hält Willie noch einmal in seinen Armen.
Soweit die an zwei Schauplätzen spielende äußere Handlung im Roman des amerikanischen Autors George Saunders (Jahrgang 1958), dem mit „Lincoln im Bardo“in den USA ein gefeierter Bestseller gelang. Doch das eigentliche Geschehen findet in einem Zwischenreich statt – auf dem Friedhof, unter all den Toten, die noch gefangen sind zwischen Diesseits und Jenseits. Bardo bezeichnet nach der Lehre des tibetischen Buddhismus die Bewusstseinszustände zwischen Tod und Ewigkeit. Und in dieser Sphäre ist Saunders NachtRoman angesiedelt. Tote sprechen, streiten, haben Gefühle, sie fliegen über Gräber, es sind Gespenster, die hadern, lieben, verklären und auf Erlösung warten. Das Bardo ist eine Art Fegefeuer der Eitelkeiten und der wahren Gefühle. Im Jenseits ist die Hölle los. Saunders, der mit seinem grandiosen Erzählband „Zehnter Dezember“bekannt geworden ist, erzählt bruchstückhaft, zerrupft, zerstückelt. Ein Chor der Stimmen und Einwürfe, Fußnoten (imaginäre und aus Archiven) und Dialoge, eine Collage aus Sprechrollen wie in einem Theaterstück oder Hörspiel. Diese Aufsplitterung, die bis in Slang-Tonlagen und Orthografie-Verdrehungen geht, macht das Lesen mühsam. Seitenweise gibt es Aneinanderreihungen von Einzelsätzen, die penibel bestimmten Toten zugeordnet sind, welche Namen tragen wie „roger bevins iii“. Die Kleinteiligkeit, durchexerziert über 440 Seiten, erscheint irgendwann nur noch als formale Zwanghaftigkeit. Originalität ohne Zugewinn für den Leser.
George Saunders als Arrangeur dieses Stimmengewirrs zwischen Realität, Erinnerung und Fiktion hebt die Zeit auf. Auf dem Friedhof der Unerlösten geht es freilich sehr menschlich zu – auch wenn die Toten nicht immer menschliche Gestalt annehmen und arg verunstaltet daherschweben. Manche Passagen lesen sich wie eine Mixtur aus Jugendbuch und Science Fiction, wobei der Autor einen Humor pflegt, der gewöhnungsbedürftig ist.
Und die Erlösungs-Geschichte, wie sich die sympathischen Toten im Bardo dem Seelenheil des kleinen Willie annehmen, wobei Solidarität, Menschlichkeit, Liebe und Aufrichtigkeit gegen niedere Gesinnungen und bösartige Jenseitige triumphieren, ist nicht frei von kitschigen Paradiesvorstellungen. Helligkeit, Engel. Wer sich von alten Vorstellungen löst, wer sein Ich und den Tod, Unvollkommenheit und Verlust akzeptiert, der kommt zum Licht, darf abschließen mit dem Grufti-Dasein.
Saunders’ Roman ist eine auf dem Friedhof angesiedelte Hymne an das Leben und die Mitmenschlichkeit. Die Biografien einiger Bardo-Geschöpfe, die sich mit der Zeit aus den Bruchstücken zusammensetzen, berühren den Leser durchaus. Indem er die Wirklichkeit umkreist und multiperspektivisch betrachtet und aufbricht, betreibt Saunders ein artifizielles literarisches Spiel, dem der Leser angestrengt folgt – bereit für einen Sog des Erzählens, den Saunders ihm konsequent versagt.
» George Saunders: Lincoln im Bardo. Luchter hand, 448 Seiten, 25 Euro