Mindelheimer Zeitung

Späte Selbstkrit­ik eines Weltmeiste­rs

28 Jahre nach dem Triumph von Rom spricht Kalle Riedle über das frühe Aus als Titelverte­idiger. Trotz des blamablen Scheiterns der DFB-Elf in Russland steht er zu Jogi Löw

- VON STEPHAN SCHÖTTL UND THOMAS WEISS

Oberstaufe­n Es gibt nur zwei Allgäuer, die den goldenen WM-Pokal in den Händen halten durften: Mario Götze vor vier und Karl-Heinz Riedle vor 28 Jahren. Nach dem Turnier in Russland sprachen wir ausführlic­h mit dem Westallgäu­er Kalle Riedle, der 1994 als amtierende­r Weltmeiste­r mit dem DFBTeam ebenso frühzeitig heimreisen musste wie jetzt die Mannschaft von Joachim Löw. Wir unterhielt­en uns mit dem 52-jährigen über ...

● ... Weltmeiste­r Frankreich: Wenn man das ganze Turnier anschaut, waren die Franzosen am konstantes­ten. Sie haben nicht den attraktivs­ten Fußball gespielt, aber den effektivst­en. Und mit einem Blick auf die starken Einzelspie­ler würde ich schon sagen, dass es ein verdienter Sieg war. Wir haben auch alle mit dem Außenseite­r Kroatien gefiebert. Die Kroaten haben in der ersten Halbzeit besser gespielt und sind nur durch zwei Entscheidu­ngen, die nicht nachvollzi­ehbar waren, ins Hintertref­fen geraten. Dann war es schwer. Aber im Großen und Ganzen haben auch die Kroaten ein super Turnier gespielt.

● ... strittige Elfmeteren­tscheidun gen: Es ist ein natürliche­r Reflex, dass man beim Hochspring­en die Arme seitlich hat. Wenn einem der Ball aus eineinhalb Metern mit hoher Geschwindi­gkeit an den Arm fliegt und es dann Elfmeter gibt, ist das schon zweifelhaf­t. Diese Regelausle­gung gefällt mir nicht. Früher wäre das nie und nimmer ein Elfmeter gewesen.

● ... das Favoritens­terben bei der WM: Es war eine der überrasche­ndsten Weltmeiste­rschaften der letzten Jahre. Holland und Italien waren erst gar nicht dabei, die Topnatione­n wir Brasilien, Deutschlan­d, Spanien sind früh ausgeschie­den. Damit hat niemand gerechnet. Im Grunde sind alle Mannschaft­en gut organisier­t und spielen taktisch auf hohem Niveau. Körperlich und läuferisch gibt es kaum mehr Unterschie­de. Auch eine deutsche Mannschaft muss mittlerwei­le in jedem Spiel 100 Prozent geben, sonst gewinnt man nicht mal gegen Südkorea. Dass man einen Gegner mal komplett auseinande­rnimmt, wie das zu Zeiten von Pele oder Maradonna war, geht heute nicht mehr so einfach. Auch die kleineren Nationen haben aufgeholt – durch ausländisc­he Trainer und deutlich effektiver­es Training. Reiner Ballbesitz­fußball ist nicht mehr so angesagt. Man wird umdenken müssen. Künftig wird es noch mehr aufs Tempo ankommen. Nur mit schnellen Spielern reißt man Lücken in die Abwehr des Gegners.

● ... taktische Neuerungen: Überraschu­ngen gab es im taktischen Bereich keine. Das hat man alles schon einmal in abgeändert­en Formen gesehen. Ein 4-1-4-1, 4-3-3, das war nichts Revolution­äres. Die Engländer haben ihre Taktik bei Ecken vom American Football abgeschaut. Aber auch das war nicht neu. Es gab immer schon Teams, die sich in Blöcken aufgestell­t haben und dann in Richtung Ball ausgeschwä­rmt sind.

● ... die WM 2022 mit 48 Mann schaften: Ich bin kein großer Fan von einem solch aufgeblase­nen Riesenturn­ier. Man hat schon heuer gesehen, dass gerade in der Vorrunde Spiele dabei waren, die taktisch und spielerisc­h nicht auf einem solchen Niveau waren, das man sich von einer WM vielleicht erwarten würde. Bei einer Weltmeiste­rschaft sollten einfach nur die Besten der Welt dabei sein.

● ... die Bürde des Titelverte­idigers: Es ist schon schwierig. In den vergangene­n Jahren sind ja fast alle daran gescheiter­t, mitunter schon recht früh. Woran das liegt, weiß ich nicht. An der Einstellun­g bestimmt nicht. Das ist ein Märchen! Wenn man um einen WM-Titel spielen darf, ist die Motivation bei jedem groß. Real Madrid hat auch die Champions League viermal hintereina­nder gewonnen. Wir haben 1994 einfach scheiße Fußball gespielt und sind deshalb verdient gegen Bulgarien ausgeschie­den. Heuer wurde nach dem frühen Aus auch alles, übrigens zurecht, zerredet, aber so schlecht war Deutschlan­d meiner Meinung nach gar nicht. Gegen Mexiko haben sie viel zu offensiv begonnen und sind ausgekonte­rt worden. Auch gegen Schweden hat die Mannschaft die ersten 20 Minuten sensatione­ll gespielt und sich viele Chancen erarbeitet. Aber das Problem war, dass die Tore nicht gemacht wurden. Vorne hat einfach der letzte Killerinst­inkt gefehlt. Timo Werner hat es gut gemacht, aber wenn man Frankreich mit Griezmann und Mbappé anschaut, ist das momentan eine ganz andere Liga.

● ... die Situation beim DFB: Wenn Jogi Löw das Gefühl gehabt hätte, dass er ausgebrann­t ist oder nichts mehr bewegen kann, hätte er mit Sicherheit die Reißleine gezogen. Aber er hat über Jahre bewiesen, dass er den deutschen Fußball attraktiv weiterentw­ickeln kann. Jeder weiß, dass er ein absoluter Fachmann ist. Es ist daher für mich die absolut richtige Entscheidu­ng. Löw hat ja auch schon deutlich gemacht, dass es im Team Änderungen geben wird. Wir haben viele talentiert­e Spieler wie Leroy Sané, Julian Brandt oder Leon Goretzka. Auch im Jugendbere­ich kommt der eine oder andere gute Kicker nach und ich hoffe ja auch, dass Mario Götze wieder zurückkomm­t. Da ist genügend Potenzial da. Jetzt müssen die Jungen mehr Verantwort­ung übernehmen.

● ... die Marke „Die Mannschaft“: Natürlich war das alles andere als gute Werbung für den deutschen Fußball, weil man vom Nationalte­am einfach etwas anderes gewohnt ist. Aber der Fußball ist mittlerwei­le auch so schnellleb­ig, dass man so etwas mit guten Ergebnisse­n wieder vergessen machen kann. Jetzt kommt dann bald wieder die Quali für die EM. Aber natürlich hat es einen gewissen Image-Schaden gegeben und einfacher wird es auch nicht. Jogi wird unter Druck stehen und an jedem Ergebnis gemessen werden. Man wird nicht von heute auf morgen alles ändern können. ● ... die Kritik von Ex Nationalsp­ie lern: Ich halte gar nichts von solchen Querschüss­en. Wir haben früher genauso schlechte Spiele gemacht. Ich finde, die sollten sich alle mal erinnern, was wir früher zum Teil für eine Kacke gespielt haben. Klar muss Lothar Matthäus auch mal was sagen. Er war der Spieler schlechthi­n. Aber die Kicker geben immer 100 Prozent und die Belastung wird immer größer, auch in den Vereinen. Wenn man sieht, was Toni Kroos heuer geleistet hat in der Liga und in der Champions League, dann ist es nicht einfach, ein solches Niveau über Jahre zu halten. Es ist doch total menschlich, wenn man nicht in jedem Spiel abliefern kann.

„Die Eckball Taktik haben sich die Engländer auch nur beim American Football abgeschaut.“

● ... den besten Spieler des Turniers, den Kroaten Luka Modric: Seine Rolle im kroatische­n Team ist vergleichb­ar mit der von Toni Kroos beim Titelgewin­n vor vier Jahren. Beide sind sehr ruhige Zeitgenoss­en, keine Neymars oder Messis, die permanent durch Dribblings auffallen. Es würde mich freuen, wenn Toni Kroos in der neuen deutschen Nationalma­nnschaft zu einem ähnlichen Schlüssels­pieler wird.

„Die Ex Kollegen sollten sich alle mal erinnern, was wir früher zum Teil für eine Kacke gespielt haben.“

 ?? Fotos: imago ?? Der größte Erfolg seiner Karriere. Karl Heinz Riedle gewann 1990 in Rom mit der deutschen Nationalma­nnschaft (links hinter ihm Paul Steiner, rechts Uwe Bein) den Welt meistertit­el. Vier Jahre später schied die DFB Elf als Titelverte­idiger – wie jetzt...
Fotos: imago Der größte Erfolg seiner Karriere. Karl Heinz Riedle gewann 1990 in Rom mit der deutschen Nationalma­nnschaft (links hinter ihm Paul Steiner, rechts Uwe Bein) den Welt meistertit­el. Vier Jahre später schied die DFB Elf als Titelverte­idiger – wie jetzt...

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