Späte Selbstkritik eines Weltmeisters
28 Jahre nach dem Triumph von Rom spricht Kalle Riedle über das frühe Aus als Titelverteidiger. Trotz des blamablen Scheiterns der DFB-Elf in Russland steht er zu Jogi Löw
Oberstaufen Es gibt nur zwei Allgäuer, die den goldenen WM-Pokal in den Händen halten durften: Mario Götze vor vier und Karl-Heinz Riedle vor 28 Jahren. Nach dem Turnier in Russland sprachen wir ausführlich mit dem Westallgäuer Kalle Riedle, der 1994 als amtierender Weltmeister mit dem DFBTeam ebenso frühzeitig heimreisen musste wie jetzt die Mannschaft von Joachim Löw. Wir unterhielten uns mit dem 52-jährigen über ...
● ... Weltmeister Frankreich: Wenn man das ganze Turnier anschaut, waren die Franzosen am konstantesten. Sie haben nicht den attraktivsten Fußball gespielt, aber den effektivsten. Und mit einem Blick auf die starken Einzelspieler würde ich schon sagen, dass es ein verdienter Sieg war. Wir haben auch alle mit dem Außenseiter Kroatien gefiebert. Die Kroaten haben in der ersten Halbzeit besser gespielt und sind nur durch zwei Entscheidungen, die nicht nachvollziehbar waren, ins Hintertreffen geraten. Dann war es schwer. Aber im Großen und Ganzen haben auch die Kroaten ein super Turnier gespielt.
● ... strittige Elfmeterentscheidun gen: Es ist ein natürlicher Reflex, dass man beim Hochspringen die Arme seitlich hat. Wenn einem der Ball aus eineinhalb Metern mit hoher Geschwindigkeit an den Arm fliegt und es dann Elfmeter gibt, ist das schon zweifelhaft. Diese Regelauslegung gefällt mir nicht. Früher wäre das nie und nimmer ein Elfmeter gewesen.
● ... das Favoritensterben bei der WM: Es war eine der überraschendsten Weltmeisterschaften der letzten Jahre. Holland und Italien waren erst gar nicht dabei, die Topnationen wir Brasilien, Deutschland, Spanien sind früh ausgeschieden. Damit hat niemand gerechnet. Im Grunde sind alle Mannschaften gut organisiert und spielen taktisch auf hohem Niveau. Körperlich und läuferisch gibt es kaum mehr Unterschiede. Auch eine deutsche Mannschaft muss mittlerweile in jedem Spiel 100 Prozent geben, sonst gewinnt man nicht mal gegen Südkorea. Dass man einen Gegner mal komplett auseinandernimmt, wie das zu Zeiten von Pele oder Maradonna war, geht heute nicht mehr so einfach. Auch die kleineren Nationen haben aufgeholt – durch ausländische Trainer und deutlich effektiveres Training. Reiner Ballbesitzfußball ist nicht mehr so angesagt. Man wird umdenken müssen. Künftig wird es noch mehr aufs Tempo ankommen. Nur mit schnellen Spielern reißt man Lücken in die Abwehr des Gegners.
● ... taktische Neuerungen: Überraschungen gab es im taktischen Bereich keine. Das hat man alles schon einmal in abgeänderten Formen gesehen. Ein 4-1-4-1, 4-3-3, das war nichts Revolutionäres. Die Engländer haben ihre Taktik bei Ecken vom American Football abgeschaut. Aber auch das war nicht neu. Es gab immer schon Teams, die sich in Blöcken aufgestellt haben und dann in Richtung Ball ausgeschwärmt sind.
● ... die WM 2022 mit 48 Mann schaften: Ich bin kein großer Fan von einem solch aufgeblasenen Riesenturnier. Man hat schon heuer gesehen, dass gerade in der Vorrunde Spiele dabei waren, die taktisch und spielerisch nicht auf einem solchen Niveau waren, das man sich von einer WM vielleicht erwarten würde. Bei einer Weltmeisterschaft sollten einfach nur die Besten der Welt dabei sein.
● ... die Bürde des Titelverteidigers: Es ist schon schwierig. In den vergangenen Jahren sind ja fast alle daran gescheitert, mitunter schon recht früh. Woran das liegt, weiß ich nicht. An der Einstellung bestimmt nicht. Das ist ein Märchen! Wenn man um einen WM-Titel spielen darf, ist die Motivation bei jedem groß. Real Madrid hat auch die Champions League viermal hintereinander gewonnen. Wir haben 1994 einfach scheiße Fußball gespielt und sind deshalb verdient gegen Bulgarien ausgeschieden. Heuer wurde nach dem frühen Aus auch alles, übrigens zurecht, zerredet, aber so schlecht war Deutschland meiner Meinung nach gar nicht. Gegen Mexiko haben sie viel zu offensiv begonnen und sind ausgekontert worden. Auch gegen Schweden hat die Mannschaft die ersten 20 Minuten sensationell gespielt und sich viele Chancen erarbeitet. Aber das Problem war, dass die Tore nicht gemacht wurden. Vorne hat einfach der letzte Killerinstinkt gefehlt. Timo Werner hat es gut gemacht, aber wenn man Frankreich mit Griezmann und Mbappé anschaut, ist das momentan eine ganz andere Liga.
● ... die Situation beim DFB: Wenn Jogi Löw das Gefühl gehabt hätte, dass er ausgebrannt ist oder nichts mehr bewegen kann, hätte er mit Sicherheit die Reißleine gezogen. Aber er hat über Jahre bewiesen, dass er den deutschen Fußball attraktiv weiterentwickeln kann. Jeder weiß, dass er ein absoluter Fachmann ist. Es ist daher für mich die absolut richtige Entscheidung. Löw hat ja auch schon deutlich gemacht, dass es im Team Änderungen geben wird. Wir haben viele talentierte Spieler wie Leroy Sané, Julian Brandt oder Leon Goretzka. Auch im Jugendbereich kommt der eine oder andere gute Kicker nach und ich hoffe ja auch, dass Mario Götze wieder zurückkommt. Da ist genügend Potenzial da. Jetzt müssen die Jungen mehr Verantwortung übernehmen.
● ... die Marke „Die Mannschaft“: Natürlich war das alles andere als gute Werbung für den deutschen Fußball, weil man vom Nationalteam einfach etwas anderes gewohnt ist. Aber der Fußball ist mittlerweile auch so schnelllebig, dass man so etwas mit guten Ergebnissen wieder vergessen machen kann. Jetzt kommt dann bald wieder die Quali für die EM. Aber natürlich hat es einen gewissen Image-Schaden gegeben und einfacher wird es auch nicht. Jogi wird unter Druck stehen und an jedem Ergebnis gemessen werden. Man wird nicht von heute auf morgen alles ändern können. ● ... die Kritik von Ex Nationalspie lern: Ich halte gar nichts von solchen Querschüssen. Wir haben früher genauso schlechte Spiele gemacht. Ich finde, die sollten sich alle mal erinnern, was wir früher zum Teil für eine Kacke gespielt haben. Klar muss Lothar Matthäus auch mal was sagen. Er war der Spieler schlechthin. Aber die Kicker geben immer 100 Prozent und die Belastung wird immer größer, auch in den Vereinen. Wenn man sieht, was Toni Kroos heuer geleistet hat in der Liga und in der Champions League, dann ist es nicht einfach, ein solches Niveau über Jahre zu halten. Es ist doch total menschlich, wenn man nicht in jedem Spiel abliefern kann.
„Die Eckball Taktik haben sich die Engländer auch nur beim American Football abgeschaut.“
● ... den besten Spieler des Turniers, den Kroaten Luka Modric: Seine Rolle im kroatischen Team ist vergleichbar mit der von Toni Kroos beim Titelgewinn vor vier Jahren. Beide sind sehr ruhige Zeitgenossen, keine Neymars oder Messis, die permanent durch Dribblings auffallen. Es würde mich freuen, wenn Toni Kroos in der neuen deutschen Nationalmannschaft zu einem ähnlichen Schlüsselspieler wird.
„Die Ex Kollegen sollten sich alle mal erinnern, was wir früher zum Teil für eine Kacke gespielt haben.“