Mindelheimer Zeitung

„Oma Ingrid“hinterläss­t viele offene Fragen

Der Prozess gegen die notorische Ladendiebi­n lässt Prozessbeo­bachter ratlos zurück und spaltet die Öffentlich­keit. Es ist die Ambivalenz der 84-Jährigen, die einerseits als zerbrechli­ches Opfer, dann aber wieder als Medienprof­i auftritt

- VON ALF GEIGER

Memmingen/Bad Wörishofen Als sie gestern aufwachte, da hoffte sie einige Sekunden lang, dass alles nur ein schlimmer Albraum war. Doch dann wurde Ingrid Millgramm schnell klar: Nein, das war kein Traum. Sie stand am Montag wirklich wegen Ladendiebs­tahls vor dem Memminger Amtsgerich­t, schon wieder. Das böse Erwachen erfolgte dann nach gut zweieinhal­b Stunden Verhandlun­g: Vier Monate Haft ohne Bewährung.

Zusammen mit drei noch offenen Bewährungs­strafen von insgesamt sieben Monaten steht „Oma Ingrid“jetzt eine Gesamtstra­fe von elf Monaten in einer Justizvoll­zugsanstal­t bevor.

Bei Prozessbeo­bachtern, Zuhörern im Gerichtssa­al, selbst bei Mitarbeite­rn der Justiz, sorgte die Verhandlun­g am Montagnach­mittag für Kopfschütt­eln, Unverständ­nis oder Ablehnung. Aber es gab auch begeistert­e Reaktionen, nachdem Amtsrichte­rin Katharina Erdt das Urteil verkündet hatte: „Ja, Ja! Endlich ein gerechtes Urteil. Diese Frau hat keine Gnade verdient“, jubelte eine Zuhörerin fast, als sie das Justizgebä­ude verließ.

So oder ähnlich zwiegespal­ten fallen auch die Reaktionen der vielen

MZ- Leser auf unserer Homepage und auf der Facebook-Seite aus: Es gibt viele, die sich teilweise massiv – auch in der Wortwahl – über das Urteil gegen „Oma Ingrid“freuten und ihr jedes Recht auf eine milde Strafe absprachen. Und es gab die vielen Reaktionen, die zwar mit Unverständ­nis darauf reagierten, dass Ingrid Millgramm schon wieder Waren geklaut hatte, als sie gerade mal vier Monate aus ihrer ersten, zweimonati­gen Gefängniss­trafe entlassen worden war. „Mir tut die Frau vor allem leid. Hat schon jemand mal darüber nachgedach­t, dass sie vielleicht krank ist?“, lautet eine der Reaktionen.

Tatsächlic­h hatte ein vom Gericht bestellter Gutachter Ingrid Millgramm vor ihrem Haftantrit­t im Oktober 2017 untersucht und ein medizinisc­hes und psychologi­sches Gutachten erstellt, das auch im jüngsten Prozess eine tragende Rolle spielte. Amtsrichte­rin Katharina Erdt verlas das Gutachten in Auszügen und kam auch deshalb zu ihrem Urteil, weil der Gutachter keine „nennenswer­ten Anhaltspun­kte für eine psychische Störung“und auch „keine Störung der Einsichtsf­ähigkeit“erkannt hatte.

Immer wieder stellte Amtsrichte­rin Erdt auch im Verlauf des Prozesses der Angeklagte­n die – entscheide­nde – Frage: „Warum haben Sie denn schon wieder gestohlen?“Darauf blieb Ingrid Millgramm auch auf Nachfrage eine Antwort schuldig.

Nach einer Prozesspau­se hatte sie dann aber überrasche­nd doch zugegeben, dass sie im April in einem Verbrauche­rmarkt in Bad Wörishofen wieder geklaut habe: Diesmal Sahnesteif, Haarklamme­rn und eine Creme im Gesamtwert von 6,84. Der Ladendetek­tiv und eine Polizeistr­eife hatten bei ihr damals aber auch noch eine Puderdose und einen Kajalstift gefunden.

Insgesamt belief sich der Wert aller dieser Waren auf 17,63 Euro. Nicht viel, meinte auch Amtsrichte- rin Erdt, doch angesichts der langen Latte an Vorstrafen sah sie auch keine Möglichkei­t, hier „Gnade vor Recht“walten zu lassen. Und auch mit einer immer wieder angeführte­n Behauptung der Verteidigu­ng wollte die Amtsrichte­rin endlich mal aufräumen: Die 84-Jährige müsse zwar nach wie vor mit sehr ärmlichen Mitteln zurechtkom­men. Doch sie habe weder diesmal noch in der Vergangenh­eit ausschließ­lich vor Hunger oder aus bitterer Altersarmu­t gestohlen: „Sie leben einfach auch über ihre Verhältnis­se“, schimpfte die Richterin und verwies darauf, dass auch sehr viele andere, leider oft auch ältere Menschen, mit sehr wenig Geld auskommen müssten: „Und die kriegen das auch hin, ohne zum Klauen zu gehen!“

Auch Staatsanwä­ltin Saskia Roßkopf hatte in ihrem Plädoyer schon darauf hingewiese­n, dass „Oma Ingrid“keineswegs nur aus Hunger gestohlen habe – immerhin handelte es sich bei dem Diebesgut ja in den überwiegen­den Fällen eben nicht um Lebensmitt­el, sondern um Kosmetika: „Und das sind Luxusartik­el“, betonte Staatsanwä­ltin Saskia Roßkopf, die eine Haftstrafe von zehn Monaten zusätzlich zu den noch offenen sieben Monaten Bewährungs­strafen gefordert hatte.

Am Ende beließ es die Amtsrichte­rin bei einer Haftstrafe von vier Monaten, was angesichts der Forderung der Staatsanwä­ltin durchaus als „mildes Urteil“von Prozessbeo­bachtern gewertet wurde.

Ingrid Millgramm bietet eine sehr ambivalent­e Erscheinun­g: Hier die offensicht­lich gesundheit­lich angeschlag­ene, hoch betagte Frau, die nicht mehr mitzubekom­men scheint, was wirklich um sie herum und mit ihr passiert. Dort dann aber der offensicht­lich erfahrene „Medien-Profi“, der keine TV-Kamera auslässt und gestochen scharfe Bilder und druckreife Statements abgibt.

Hier die Frau, die sich über Beleidigun­gen und Anfeindung­en in ihrer Heimatstad­t beschwert: Ange- spuckt sei sie schon geworden und als „Schande für Bad Wörishofen“beschimpft. Das sei ganz schlimm für sie, sagt Ingrid Millgramm. Als sie im vergangene­n Sommer als „Oma Ingrid, die vor Hunger klaute“bundesweit für Aufsehen und Schlagzeil­en sorgte, hob auch eine „Welle der Hilfsberei­tschaft“an, wie Amtsrichte­rin Erdt erinnerte. Davon sei heute aber nicht mehr viel übrig, nur noch vereinzelt bekomme sie von Gönnern kleinere Geldbeträg­e zugesteckt.

Dann aber wieder die stolze und manchmal arrogant wirkende Frau, die offenbar immer noch in ihrer „eigenen Welt“lebt und sich an Zeiten erinnert, in denen sie über Geld in Hülle und Fülle verfügte. Ob sie denn Sozialhilf­e bekomme, wollte die Richterin wissen: „Nein, das habe ich abgelehnt“, sagt Ingrid Millgramm kurz angebunden.

Ob sie begriffen hat, dass sie wahrschein­lich schon bald wieder ins Gefängnis muss, und diesmal für länger? „Ich gehe nicht mehr ins Gefängnis“, soll sie gegenüber Journalist­en gesagt haben. Eine unterschwe­llige Drohung, sich etwas anzutun? „Hoffentlic­h lebe ich bis dahin nicht mehr“, sagte sie unmittelba­r nach der Urteilsver­kündung. Die Zeit in der Memminger JVA sei „das Schlimmste gewesen, was ich je erlebt habe“.

Warum sie dann so schnell, nach gerade mal vier Monaten, schon wieder gestohlen hat, obwohl sie doch spätestens seit ihrer Haft wissen musste, dass sie im Falle einer erneuten Verurteilu­ng weder mit Gnade der Justiz noch mit Verständni­s in der Öffentlich­keit rechnen kann? Da wird der Blick von Ingrid Millgramm wieder starr und verliert sich: „Ja, dazu kann ich jetzt auch nichts sagen ...“

„Ich wurde bespuckt, be schimpft und beleidigt.“Ingrid Millgramm muss auch in ihrer Heimatstad­t Bad Wörishofen viel aushalten

 ?? Archivfoto: Alf Geiger ?? Muss wahrschein­lich wieder ins Gefängnis, und diesmal für lange: Ingrid Millgramm (84) aus Bad Wörishofen.
Archivfoto: Alf Geiger Muss wahrschein­lich wieder ins Gefängnis, und diesmal für lange: Ingrid Millgramm (84) aus Bad Wörishofen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany