Mindelheimer Zeitung

Hartings Erbin

Gina Lückenkemp­er gibt der Leichtathl­etik ein neues Gesicht

- VON ANDREAS KORNES

So sieht es also aus, das neue Gesicht der deutschen Leichtathl­etik. Ein bisschen müde. Aber mit einem Lächeln. Hinter Gina Lückenkemp­er liegt eine kurze Nacht, als sie zur Pressekonf­erenz erscheint. Am Abend zuvor hatte sie bei der Europameis­terschaft Silber über 100 Meter gewonnen. In einem der schnellste­n Finals, das es je bei einer EM gegeben hat. Alle drei Medailleng­ewinnerinn­en blieben unter der magischen Elf-Sekunden-Marke.

Lückenkemp­er ist damit die heißeste Anwärterin auf die Nachfolge von Robert Harting. Der Diskuswerf­er beendete gestern seine glanzvolle Karriere. Er ist das amtierende Gesicht. Zugegeben, ein bisschen bärtiger als das der 21-jährigen Sprinterin. Und auch der Haaransatz ist schon ein bisschen nach hinten gerutscht. Zehn Jahre war er das Aushängesc­hild seiner Sportart.

Die Anforderun­gen sind hoch. Sport: Weltklasse ist hilfreich. Optik: markant, im Idealfall attraktiv. Eloquenz: wichtig. Meinung: wichtiger. Humor: schadet nicht. Intelligen­z: schadet noch weniger. Zusammen ergibt das das Gesicht einer Sportart. Jede hat eines. Der Fußball jede Menge. Müsste man sich auf eines festlegen, wäre es Cristiano Ronaldo. Was zeigt, dass nicht alle Kriterien gleich wichtig sind. Manchmal reichen schon Spitzenwer­te in einigen wenigen. Die Leichtathl­etik hat das Glück, mit Lückenkemp­er über eine Kandidatin zu verfügen, die überall punktet. Hände schütteln. Lächeln. Selfies machen. Lächeln. So ist es, wenn man das Gesicht einer Sportart ist. Jeder will es sehen. Das ist gut für die Sportart. Ob es für den Sportler gut ist, sei dahingeste­llt. Harting hat den Job gut gemacht. Einer, an dem man sich reiben konnte. Lückenkemp­er ist anders. Sie muss man einfach mögen.

Alles Weitere zur EM in Berlin finden Sie im Sport.

Berlin Von dem Rennen selbst ist nichts mehr da. Das Letzte, woran sich Gina Lückenkemp­er erinnert, ist, dass sie kurz vor dem Startschus­s einen Zuschauer ihren Namen rufen hörte. „Das fand ich ziemlich geil“, sagte sie gestern. Danach: Filmriss. Erst im Ziel schaltet sich die Erinnerung wieder ein. Als auf der Anzeigetaf­el Platz zwei aufleuchte­te, darunter die Zeit von 10,98 Sekunden. Als all die Emotionen über sie hereinbrac­hen. Die Tränen. Die Freude. Die einsame Ehrenrunde mit der Deutschlan­dfahne über den Schultern. Aber auch der Druck, der in diesen Momenten abfiel.

„Ich habe ja schon Anfang des Jahres zwei Medaillen als Ziel ausgegeben. Dass das nicht einfach wird, war klar.“Und klar war auch, dass der Druck dadurch täglich größer wurde, je näher die Europameis­terschaft rückte. „Aber meine Entwicklun­g der vergangene­n Jahre hat dafür gesprochen. Außerdem bin ich ein Wettkampft­yp.“Letzteres ist eine Qualität, die nicht zu erlernen ist. Entweder man hat sie, oder man hat sie nicht. Diese Fähigkeit, am Tag X die beste Leistung abzurufen. Unter den Augen von 35 000 Menschen im Stadion und Millionen vor dem Fernseher. „Mich pusht das. Mich macht das schnell“, sagt Lückenkemp­er über Lückenkemp­er. „Das kann nicht jeder, ich kann es.“Erst viele Stunden nach ihrem Lauf zu Silber lag die 21-Jährige gegen 2.30 Uhr im Bett. Spätestens in diesem Moment begann aber schon die Vorbereitu­ng auf die 4 x 100-m-Staffel am Sonntag, dem letzten Tag der EM. Dann soll die zweite Medaille her. Also packte Lückenkemp­er ihre schnellen Beine in den Lymphamat. Das ist ein Gerät, das zwei überdimens­ionalen Stützstrüm­pfen gleicht.

Ein kleiner Kompressor pumpt an den Füßen beginnend Luft in kleine Kammern und übt dadurch Druck auf die Muskulatur aus. „Das sieht aus wie Astronaute­nbeine“, beschreibt es Lückenkemp­er mit einem Lachen.„Dabei wird Flüssigkei­t aus den Beinen nach oben im Körper geschoben. Das ist kein Teufelswer­k. Es hilft der Regenerati­on und hilft den Beinen, solche Tage wie gestern viel besser zu verarbeite­n. Man fühlt sich am nächsten Morgen bedeutend besser.“Von illegalen Methoden, wie sie jene sechs deutschen Läuferinne­n angewendet haben, die vor Lückenkemp­er unter 11 Sekunden geblieben waren, hält die 21-Jährige dagegen gar nichts. Sie positionie­rt sich klar. „Ich könnte meinem Körper Doping niemals zumuten. Ich könnte es mit meinem Gewissen nicht vereinbare­n. Ich würde meinen Körper niemals mutwillig zerstören für eine Medaille. Das ist es mir einfach nicht wert.“

Lückenkemp­er sieht trotzdem noch Potenzial, das aber auf natürliche­m Wege ausgeschöp­ft werden soll. Fünf- bis sechsmal trainiert sie momentan pro Woche. Das ist, verglichen mit einem Langstreck­enläufer, verschwind­end wenig. Mehr will sie in Zukunft dennoch nicht trainieren, dafür aber intensiver. „Man darf nicht vergessen, dass ich Sprinterin bin. Die Sprintermu­skulatur braucht einfach Regenerati­onszeit und die bekomme ich nicht, wenn ich elf Trainingse­inheiten in der Woche mache.“Ob mehr Intensität im Training dann automatisc­h auch schnellere Zeiten bringt, wagt Lückenkemp­er nicht zu prognostiz­iere. „Ich bin aber froh, dass ich noch Reserven habe. Es wäre doch schade, wenn ich mit 21 schon an der Spitze meiner Karriere wäre.“

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Foto: dpa Jung, schnell, erfolgreic­h. Gina Lücken kemper lief die 100 Meter unter elf Se kunden.

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