„Ich bin völlig verloren“
Ein Mann versucht, sich das Leben zu nehmen und bringt dabei andere in Gefahr. Dahinter stecken eine komplizierte Lebensgeschichte und ein Suchtproblem
Memmingen/Mindelheim Ein Mann stellt sich an eine Kreuzung in Mindelheim und wartet auf den nächsten LKW. Als einer sich nähert, läuft er plötzlich auf die Straße. Der Lastwagenfahrer reagiert sofort – und verhindert so Schlimmeres.
Vor dem Amtsgericht Memmingen wird der versuchte Suizid als „gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr“verhandelt. Der 33-jährige Angeklagte nennt als Grund für seine Suizidgedanken eine gescheiterte Ehe. Außerdem hat der Mann seit Jahren ein schweres Alkoholproblem: „Sie sehen ja, ich bin völlig verloren“, sagt er zur Richterin. Die Verhandlung beginnt um 8.30 Uhr – der 33-Jährige hat davor bereits „vier oder fünf Halbe und einen Hugo“getrunken.
Wie sehr ihn der Alkohol am besagten Tag an der BayWa-Kreuzung in Mindelheim beeinflusst hat, lässt sich schwer feststellen. Richterin Katharina Erdt vermutet, dass der 33-Jährige dadurch vermindert steuerungsfähig war. Die Zeugen, die am Unfallort waren, konnten jedoch keinen sichtbaren Alkoholeinfluss feststellen. Sie beschreiben den 33-Jährigen lediglich als verwirrt.
Ein Bad Wörishofer schildert vor Gericht, wie er an besagtem Tag Anfang Februar hinter dem Lastwagen herfuhr. „Ich habe gesehen, wie der Mann am Straßenrand und der LKW-Fahrer Blickkontakt hatten – ich bin also davon ausgegangen, dass der LKW gleich rechts ranfährt und den Mann einsteigen lässt.“Daher habe er auch schon etwas gebremst. „Ich hatte aber das Fenster offen und habe plötzlich diesen Knall gehört.“
Der Bad Wörishofer erzählt, wie er Erste Hilfe leistete und dass ein junges Mädchen den Notruf wählte: „Irgendwann kam dann noch ein Feuerwehrmann dazu, der auch geholfen hat.“Der Feuerwehrmann, ein 40-jähriger Ostallgäuer, erinnert sich: „Ich habe eine Pulskontrolle gemacht und seine Reflexe getestet, als der Mann plötzlich aufgesprungen ist und ein Messer gezogen hat.“
Der Angeklagte wollte allerdings niemanden bedrohen, sondern die Menschen nur auf Distanz halten, da sind sich die Helfer vor Gericht weitestgehend einig. „Er ist dann auf die andere Straßenseite gerannt und hat sich plötzlich selbst das Messer in den Bauch gerammt“, erzählen die Zeugen. „Der andere hat ihm das Messer aus der Hand geschlagen und ich habe es weggekickt“, sagt der Ostallgäuer. „Bis der Krankenwagen kam, haben wir ihn auf dem Boden fixiert.“Der 33-Jährige sei kaum ansprechbar gewesen – bis der Krankenwagen kam: „Er hat mir, als er auf der Trage lag, auf Italienisch gesagt, dass ich sein Leben gerettet habe“, erzählt der Bad Wörishofer, der gebürtiger Italiener ist.
Vor Gericht betont der Angeklagte immer wieder, dass er kein böser Mensch sei und mit seiner Tat keinem schaden wollte. Mehrfach entschuldigt er sich bei den Zeugen. Außerdem bittet er schon fast darum, ins Gefängnis zu dürfen: „Dass ich mal vom Alkohol wegkomme.“ Dieser, da sind sich Gericht und Gutachter einig, ist das Hauptproblem des 33-Jährigen.
Gutachter Norbert Ormanns erklärt, dass es in der Familie des Angeklagten mehrere Suchtkranke gebe. Der 33-Jährige selbst hatte seinen ersten Vollrausch mit neun Jahren und seitdem nur kurze Phasen, in denen er trocken war. Psychiater Norbert Ormanns befürchtet, dass der 33-Jährige ohne Therapie immer wieder rückfällig wird und nicht vom Alkohol loskommt. „Dann wird es sich ergeben, dass weitere Straftaten folgen“, betont Norbert Ormanns.
Auch das Vorstrafenregister des 33-Jährigen ist lang: Insgesamt elf Vergehen, darunter mehrfacher schwerer Diebstahl, Trunkenheit im Verkehr und Sachbeschädigung. Außerdem hat er noch zwei offene Bewährungen. Während der vergangenen Jahre hat der 33-Jährige in verschiedenen Ländern gelebt und war phasenweise auch obdachlos. Momentan wohnt er bei seiner Mutter.
„Ich bin etwas ratlos, was ich mit Ihnen noch machen soll“, sagt Richterin Katharina Erdt zum Angeklagten. „Sie waren in Therapie, es gab Geldstrafen, Freiheitsstrafen auf Bewährung und einen Bewährungshelfer.“Die vier Monate Haft, zu denen die Richterin den Angeklagten am Ende verurteilt, soll er „als Chance sehen, trocken zu werden“. Er sei schließlich noch jung und habe Chancen: „Und machen Sie nie wieder solchen Blödsinn, das ist keine Lösung“, lauten die letzten eindringlichen Worte der Richterin.
Ohne Therapie wird der 33 Jährige wahrscheinlich immer wieder rückfällig
OHilfe Normalerweise berichten wir nicht über Suizid – es sei denn, er fin det im öffentlichen Raum statt. Sollten Sie Suizidgedanken hegen, finden Sie Hilfe bei der „Nummer gegen Kummer“unter 0800/111 550 oder bei der Telefon seelsorge unter 0800/111–0111.