Mindelheimer Zeitung

Den inneren Frieden wieder gefunden

Natan Grossmann hat den Holocaust überlebt und ist seit 20 Jahren treuer Kurgast im Alpenhof

- VON HELMUT BADER

Bad Wörishofen Wenn Natan Grossmann seine Lebensgesc­hichte erzählt, dann hat mein das Gefühl, dies wäre allein schon fast einen Film wert. Ein wesentlich­er Teil davon wurde zuletzt auch tatsächlic­h in einen Film eingearbei­tet, den Regisseuri­n Tanja Cummings erstellte und in dem Natan Grossman eine wesentlich­e Rolle spielt.

Dazu muss man wissen, dass dieser im jüdischen Ghetto von Lodz in Polen aufgewachs­en ist, nach Auschwitz deportiert wurde, dort dem Holocaust jedoch entkommen ist und heute als 90-jähriger treuer Kurgast seit 20 Jahren im Hotel Alpenhof in der Gammenried­er Straße ist. Als einer der nicht mehr allzu vielen Zeitzeugen weiß er Tiefgreife­ndes zu berichten.

Paola Rauscher vom Grünen-Ortsverban­d hat ein Gespräch mit ihm im Hotel vermittelt. Wenn man hier den temperamen­tvollen Mann erzählen hört, dann glaubt man erstens kaum, dass er bereits in so fortgeschr­ittenem Alter ist, und zum anderen, was er vor allem in seinen jungen Jahren alles mitgemacht hat.

In diesem Film kehrte er zusammen mit der Regisseuri­n, dem Filmteam und dem Sohn des damaligen Oberbürger­meisters von Lodz (da- mals hieß es noch Litzmannst­adt) zu diesen Ursprüngen im heutigen Polen zurück.

Eine ganz besondere Rolle in dem Film mit dem Titel „Linie 41“nimmt Jens-Jürgen Ventzky als Sohn seines Vaters ein. Denn dieser macht ganz deutlich, dass sein eigener Vater die Verbrechen, die im damaligen Ghetto geschehen sind, zu verantwort­en hatte. Mehr noch, er verurteilt das Verhalten des Vaters scharf und macht keinen Versuch, etwas davon zu beschönige­n. Dieses Verhalten seines jetzigen Freundes hebt Natan Grossmann auch im Gespräch deutlich hervor und bewundert es verständli­cherweise.

„Linie 41“heißt der Film, weil dies die Nummer der Straßenbah­n war, die durch das damalige Ghetto in Lodz führte. Diese fuhr zwar durch, durfte dort jedoch nicht anhalten, sodass die 160 000 jüdischen Bewohner auch dadurch keinen Kontakt zur Außenwelt mehr hat- Wenn Natan Grossmann über das Leben im Ghetto, das nicht weniger schrecklic­h war wie im vielleicht bekanntere­n von Warschau, erzählt, dann wird man in eine Grausamkei­t geführt, die heute fast nicht mehr vorstellba­r ist.

Am Ende wurden 150 000 der anfänglich­en Bewohner zu Tode gebracht. Viele davon ließen die Nationalso­zialisten einfach bewusst verhungern, andere, die als Arbeitskrä­fte nicht mehr taugten, wurden in Konzentrat­ionslager wie nach Auschwitz deportiert und starben in den Gasöfen.

Auch die Eltern von Natan Grossman und sein Bruder überlebten nicht. Er musste miterleben, wie im Ghetto die Mutter mehr oder weniger verhungert­e und der Vater erschlagen wurde.

Natan war etwa 16 Jahre alt, hatte Schmid gelernt und war deshalb relativ kräftig, als auch er vom Ghetto nach Auschwitz deportiert wurde. „Es klingt vielleicht komisch, aber mir hat Auschwitz vielleicht das Leben gerettet“, berichtete er zur Überraschu­ng der Zuhörer.

Während nämlich fast alle anderen dort aussortier­t und getötet wurden, fand er noch als Arbeiter eine Verwendung. Und als in Deutschlan­d zum Kriegsende hin die eigenen Männer an der Front waren, wurden Arbeitskrä­fte aus dem KZ zu einem Lager nach Feschelde bei Braunschwe­ig mit einer Lkw-Fabrik gebracht, unter ihnen Natan Grossmann. „Dort wurden wir sogar gut behandelt“, betont er. Als allerdings 1945 diese Lager liquidiert wurden, wusste man nicht, wohin mit den Insassen.

So wurden viele nach Ludwigslus­t bei Hamburg geschickt. Den sogenannte­n „Todesmarsc­h“überlebten dann nur noch wenige. Als die Lager schließlic­h von den Amerikaner­n befreit wurden, war für ihn am 2. Mai 1945 der Krieg zu Ende. „Ich hatte ein Gefühl wie neu geboren und ließ mir später dort sogar eine neue Geburtsurk­unde ausstellen.“

Spannend jedoch auch Grossmanns Erzählung über die Folgejahre und vor allem seine Gefühle danach. „Natürlich hatten wir Hass in uns, der auch entspreche­nd bei den jungen Leuten damals von den Älteren geschürt wurde.“Auch die Frage, warum sich die Menschen im Ghetto damals nicht gewehrt haben, stellte sich Grossmann. „Zum Teil wurden wir dafür sogar angefeinde­t, aber wir wussten doch, dass jeder Widerstand noch schlimmere Drangsal zur Folge gehabt hätte.“

1946 wanderte er bereits nach Israel aus und arbeitete in einem Kibbuz. „Ich habe versucht, mit meiten. nem bisherigen Leben einfach abzuschlie­ßen und neu anzufangen.“Mit der Gründung des Staates Israel 1948 und der bald darauf folgenden Aussöhnung zwischen Konrad Adenauer und Ben Gurion, setzte auch bei ihm ein Umdenken ein. „12 Jahre Faschismus haben das deutsche Volk beschmutzt und ich will helfen das deutsche Nest sauber zu halten.

Die spätere Generation kann ja nichts mehr dafür“, so seine jetzige Einstellun­g. „Das Deutschlan­d heute ist ja ein ganz anderes“, ist seine Überzeugun­g. 1960 kommt er nach München und heiratet eine deutsche Frau. Seine Aufgabe sieht Natan Grossmann seitdem darin, als Zeitzeuge aufzukläre­n, nicht zuzulassen, dass der Holocaust geleugnet wird, aber auch zu warnen, dass junge Leute, die oft anfällig sind, nicht mehr Demagogen oder Populisten in die Hände fallen dürfen.

Er selbst genießt nun seit 20 Jahren seine Aufenthalt­e in der Kneippstad­t, ist fasziniert von der Person Kneipp und seiner Lehre und lässt sich bei Schwimmen, Wickel oder Massagen verwöhnen. Ein Gespräch mit ihm jedoch ist nicht nur beeindruck­end, zuweilen auch bedrückend – doch letztendli­ch auch Hoffnung spendend, dass Versöhnung über Gräber und Grausamkei­ten hinweg möglich ist. Natan Großmann ist es wichtig, diese Botschaft noch lange weiterzuge­ben.

„Es klingt vielleicht komisch, aber mir hat die Deportatio­n nach Auschwitz vielleicht das Leben gerettet“Natan Grossmann

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Fotos: Helmut Bader Paola Rauscher knüpfte den Kontakt zu Natan Grossmann, der seit gut 20 Jahren re gelmäßig in Bad Wörishofen Urlaub macht. Der knapp 90 Jährige hat vieles zu erzäh len.
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Natan Grossmann

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