Mindelheimer Zeitung

Suizidvers­uch mit fatalen Folgen

Eine Unterallgä­uerin will sich das Leben nehmen und rennt auf die Autobahn. Sie überlebt, ein Familienva­ter stirbt. Nun wird die 45-Jährige vor Gericht zur Rechenscha­ft gezogen

- VON LEONIE KÜTHMANN

Memmingen/Wiedergelt­ingen Es ist eine Horrorvors­tellung für jeden Fahrer: Man ist auf der Autobahn unterwegs und plötzlich läuft eine Person auf die Straße. Genau das ist im Januar 2017 bei Wiedergelt­ingen passiert: Eine Unterallgä­uerin ist beim Parkplatz „Wertachtal“auf die A 96 gelaufen. Dabei geriet sie direkt vor einen Sattelzug, dessen Fahrer eine Vollbremsu­ng machte. Der Mann aus dem Kreis Landsberg erlitt einen Schock, blieb sonst aber unverletzt. Ein Autofahrer, der gerade überholen wollte, krachte jedoch in den Lkw und konnte nicht mehr gerettet werden. Er starb kurze Zeit später in einem Krankenhau­s in Ulm an einem schweren SchädelHir­n-Trauma.

Auch die 45-jährige Angeklagte erlitt bei dem Unfall einige Verletzung­en, darunter mehrere Brüche im Gesicht, am Becken und am Oberarm. Zudem musste ein Luftröhren­schnitt gemacht werden und sie kann ihre Schulter nicht mehr richtig bewegen. „Außerdem haben Sie vergessen, dass ich auch fünf Zähne in der oberen Zahnreihe verloren habe“, wirft die Angeklagte in der Gerichtsve­rhandlung ein.

Wie sie konkret zu den Verletzung­en gekommen ist, weiß sie nicht. „Ich erinnere mich nur daran, dass ich in der Klinik in Murnau aufgewacht bin.“Sie war der Meinung, sie sei auf dem Bauernhof der in ein Silofass gefallen. „Erst durch Gespräche mit den Angehörige­n hat sie nach und nach eingesehen, was wirklich vorgefalle­n ist“, berichtet Gutachter Norbert Ormanns, der mit der Frau im Vorfeld gesprochen hatte.

Dass sich die Geschichte so ereignet hat, wie in der Anklage vorgetrage­n, bestätigen mehrere Zeugen, darunter auch der Fahrer des Sattelzugs, der beschreibt, wie er versuchte, der Person am Straßenran­d auszuweich­en: „Ich habe schon leicht gebremst, bin Richtung Mittellini­e gefahren. Plötzlich ist die Person losgerannt und ich bin ganz nach links gefahren und habe eine Vollbremsu­ng gemacht.“Den Autofahrer, der auf der linken Spur überholen wollte, habe er nicht gesehen.

Ihn hat jedoch ein Ehepaar beobachtet, das hinter dem Sattelzug auf der rechten Spur fuhr. Vor Gericht erinnert sich die Frau: „Ich habe die Person auf die Straße rennen sehen und nur geschrien ,Brems, brems!’“Ihrer Ansicht nach habe der andere Autofahrer die Frau gar nicht wahrnehmen können, weil das Blickfeld durch den Lkw versperrt war. Dieser sei dann schräg auf der Autobahn gewesen: „Wir sind rechts dran vorbei und ich habe meinem Mann ge- er solle weiterfahr­en, nicht, dass uns auch noch jemand drauffährt“, erzählt die Bad Wörishofer­in, die kurz danach den Notruf wählte.

Der Mann, der bei dem Unfall starb, hinterläss­t eine Frau und zwei Kinder. Vor Gericht tritt die Familie als Nebenkläge­r auf und wird von Rechtsanwä­ltin Julia Dümmler vertreten, die immer wieder nachhakt: „Haben Sie sich denn mal bei der Familie gemeldet?“Nein, antwortet die Angeklagte, das sei ihr unangenehm gewesen.

Dass sie sich an den Vorfall nicht erinnern kann, glaubt Richterin Kathrin Krempl der 45-Jährigen. Dass es sich dabei um einen Suizid handelt, ist für die Richterin die einzig sinnvolle Erklärung. Verteidige­r Franz Paul sieht das anders: „Es kann auch andere Gründe geben, wieso meine Mandantin auf die Straße gerannt ist. Gründe, die niemand kennt – auch sie selbst nicht.“

Damals nahm die Unterallgä­uerin diverse Antidepres­siva, davor war sie bereits mehrfach in Behandlung. Sie selbst spricht von „einer schweren Depression“, ausgelöst durch den Verlust der Arbeitsste­lle: „Mir wurde nahegelegt aufgrund eines Fehlers, den ich gemacht habe, zu kündigen.“Die 45-Jährige hat den Großteil ihres Lebens bei den Eltern gelebt und „noch nie eine längere Partnersch­aft gehabt“, so beschreibt es Psychiater Norbert Ormanns.

Der Ärztliche Direktor am BeFamilie zirkskrank­enhaus Kaufbeuren erklärt außerdem, dass die 45-Jährige nicht sehr selbstkrit­isch sei und ihre Handlungen nicht reflektier­e. Ein Punkt, der auch der Nebenkläge­rVertreter­in wichtig ist: „Ich habe den Eindruck, dass die Angeklagte hier vor Gericht sehr ich-bezogen auftritt und Dinge sagt wie ,Ihr habt vergessen, dass ich fünf Zähne verloren habe’. Bei dem Vorfall ist ein Mensch umgekommen – hat sie das begriffen?“, fragt Julia Dümmler. Für sie stelle sich die Frage, ob die 45-Jährige einen weiteren Suizidvers­uch begehen könnte, bei dem erneut jemand zu Schaden kommen kann.

Gutachter Norbert Ormanns schildert, dass die Angeklagte auch im Frühjahr 2018 Suizidgeda­nken hegte: „Das waren aber keine konkreten Pläne, sondern passive Gedanken.“Die Angehörige­n seien zu dieser Zeit aufmerksam geworden, weil sie bei der 45-Jährigen eine große Menge Alkohol gefunden hatten. „Ich bin damals nicht mit dem Unfall klargekomm­en. Mittlerwei­le habe ich es verkraftet, ich kann es ja nicht ändern“, sagt die 45-Jährige. Ihre letzten Worte lauten: „Mir tut’s schon leid, aber ich habe ja auch sehr zu kämpfen.“

Eine Einstellun­g, die für Staatssagt, anwalt Michael Winkler und Julia Dümmler gegen die Angeklagte spricht. Für sie spricht laut Winkler und Franz Paul jedoch, dass die 45-Jährige nicht vorbestraf­t ist und vermindert steuerungs­fähig war. Außerdem war sie zum Tatzeitpun­kt laut Einschätzu­ng des Psychiater­s vermindert schuldfähi­g. „Den Großteil der Strafe hat sie sich durch den Unfall selbst gegeben“, betont Verteidige­r Paul. Er würde daher eine Geldstrafe oder sogar einen Freispruch für angemessen halten.

Richterin Kathrin Krempl verurteilt die 45-Jährige letztlich zu acht Monaten Freiheitss­trafe auf Bewährung – einen Monat weniger als das, was Julia Dümmler gefordert hatte. Außerdem darf die Angeklagte drei Monate nicht Auto fahren und muss 200 Sozialstun­den ableisten.

Bei allen Punkten, die für die Angeklagte sprachen, war der Vorfall laut Krempl trotzdem „Fahrlässig­keit, die sich dem Vorsatz annähert“: Wer auf eine Autobahn rennt, müsse damit rechnen, dass es zu einer Karambolag­e kommt, bei der Menschen verletzt oder getötet werden.

Auch die Angeklagte erlitt einige Verletzung­en

„Fahrlässig­keit, die sich dem Vorsatz nähert“

Hilfe Normalerwe­ise berichten wir nicht über Suizid – es sei denn, er fin det im öffentlich­en Raum statt. Sollten Sie Suizidgeda­nken hegen, finden Sie Hilfe bei der „Nummer gegen Kummer“unter 0800/111 550 oder bei der Telefon seelsorge unter 0800/111 0111.

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