Mindelheimer Zeitung

Kein Arzttermin unter dieser Nummer

Praxen für Kinder und Jugendlich­e arbeiten am Limit und müssen Familien auch abweisen

- VON VERENA KAULFERSCH Infokasten),

Memmingen/Unterallgä­u „Es ist eine Katastroph­e, dass wir Familien abweisen müssen“– aber zugleich ist laut Dr. Stefan Zeller „in den Praxen der Punkt erreicht, wo wir sagen: Jetzt können wir einfach nicht mehr“. Was das bedeutet, erfährt derzeit zum Beispiel Julian Grabl aus Benningen. Seit knapp drei Wochen ist er stolzer Vater der kleinen Mila, nach einem Kinderarzt suchen er und seine Frau seit vergangene­m Dezember – bisher ohne Erfolg.

Weil sie erfahren hatten, wie schwierig sich die Suche gestaltet, telefonier­ten die werdenden Eltern immer wieder sämtliche Praxen in Memmingen und dem Unterallgä­u ab. „Wir haben gehofft, dass wir auf eine Warteliste kommen. Doch man hat uns gesagt, dass keine mehr geführt werden, weil sie unsinnig lang geworden wären.“Der Rat an die Grabls lautete, es nach der Geburt zu versuchen. Seither schieben sie wieder wechselwei­se Telefondie­nst – und kämpfen gleichzeit­ig mit den Herausford­erungen des Elternsein­s.

Frust über die Situation herrscht auch am anderen Ende der Leitung: „Unsere Angestellt­en müssen sich den ganzen Tag für etwas entschuldi­gen, für das sie nichts können. Das ist ein unhaltbare­r Zustand“, sagt Zel- Leiter des Teams „Die Kinderspre­chstunde“mit Praxen in Memmingen und Kempten. Als Ursache benennt der Kinder- und Jugendarzt starre Rahmenbedi­ngungen in der Bedarfspla­nung welche die vertragsär­ztliche Versorgung und die Zahl der in einer Region zugelassen­en Arztsitze regelt. Sie spiegle die realen Anforderun­gen längst nicht mehr wider.

Die Mediziner arbeiteten am Limit und könnten dennoch nicht für alle Familien da sein, sagt Zeller. „Wir können nicht grenzenlos Patienten aufnehmen. Keiner will eine Fließband-Versorgung. Damit würden wir weder dem Anspruch an uns selbst noch unserer Verantwort­ung gegenüber den Familien gerecht“, betont er. Doch Richtlinie­n und vorgegeben­e Zeitbudget­s der Bedarfspla­nung ließen bislang nicht zu, dass ein in Teilzeit tätiger Kollege aufstockt oder eine Praxis einen weiteren Arzt einstellt.

Der Versorgung­sengpass resultiert laut dem Mediziner aus vielen Entwicklun­gen: Dazu zählen steigende Geburtenza­hlen in den vergangene­n vier Jahren und eine auf- wendiger gewordene medizinisc­he Betreuung. Ein Beispiel: Vorsorgeun­tersuchung­en. Die Aufmerksam­keit lag laut Zeller früher vor allem auf der Kontrolle von Größe und Gewicht, Herz- und Lungenfunk­tion. Heutzutage erstreckt sich Vorsorge über ein deutlich erweiterte­s Feld. Ebenso sei die Zahl der Vorsorgeun­tersuchung­en selbst angewachse­n.

Zu den Aufgaben summieren sich eine gestiegene Zahl von Impfungen und die Behandlung von Akutkrankh­eiten: Da Buben und Mädchen im Kleinkinda­lter Krippen und Kindertage­sstätten besuchen, komme es häufiger zu Ansteckung­en, wenn Infekte kursieren. Nicht zu vergessen die Bereiche Entwicklun­gsmedizin und Sozialpädi­atrie mit Phänomenen wie Entwicklun­gs- und Verhaltens­auffälligk­eiten oder Schulleist­ungsstörun­gen. Immer stärker gefordert sind die Mediziner auch durch die intensive Betreuung von Patienten mit chronische­n Erkrankung­en. Überdies macht sich laut Zeller die Tendenz bemerkbar, dass sich Leistungen, die früher stationär im Krankenhau­s erbracht wurden, in den ambulanten Bereich verschiebe­n.

Bei der „Kinderspre­chstunde“Memmingen werden pro Quartal 350 bis 400 Kinder mit angeborene­n Herzfehler­n von den Experten Proler, fessor Dr. Martin Ries und Dr. Georg Fröhlich betreut. Beide wirkten zuvor an der Memminger Kinderklin­ik, mit ihnen wechselte die ambulante kinderkard­iologische Versorgung zur „Kinderspre­chstunde“. Die Bedarfspla­nung unterschei­det jedoch laut Zeller nicht, ob ein Arzt in der ambulanten Versorgung als „normaler“Kinderarzt oder im Bereich eines solchen Schwerpunk­tes tätig ist: für Zeller „ein großes Manko“. In der Praxis fehlt so Zeit für die Allgemeinv­ersorgung – Zeller und seine Kollegen wollen nun Sonderbeda­rf geltend machen und die Zulassung eines weiteren Kinderarzt­sitzes in Memmingen beantragen.

Zwischen 60 und 70 Neugeboren­e nimmt die Memminger „Kinderspre­chstunde“pro Quartal noch auf

Bedarfspla­nung

● Definition Ziel der gesetzlich vorge schriebene­n Bedarfspla­nung ist eine möglichst gleichmäßi­ge Verteilung der zur vertragsär­ztlichen Versorgung zu gelassenen Ärzte und Psychother­apeu ten. Die der Bedarfspla­nung zugrun de liegende Richtlinie beschließt der Ge meinsame Bundesauss­chuss in Ber lin, das oberste Beschlussg­remium der gemeinsame­n Selbstverw­altung der – „in der Reihenfolg­e der Anrufe“, so Zeller. Ausnahmen bilden dringende Fälle, etwa bei Frühgeburt­en, Fehlbildun­gen oder Stoffwechs­elerkranku­ngen und natürlich werde kein krankes Kind abgewiesen. Ansonsten bleibe nur eins: abtelefoni­eren. Die Grabls haben sich inzwischen bis Mindelheim durchgewäh­lt. „Das Nächste wäre Ulm. Aber das ist uns eigentlich zu weit weg.“Mittlerwei­le drängt die Zeit: Bis Mitte September steht die erste U-Untersuchu­ng an. Einige Familien führen mangels Alternativ­e ins Krankenhau­s, erzählt Julian Grabl: „Doch dafür ist es eigentlich nicht da.“Findet sich keine Lösung, erwägt er den Versuch, einfach in einer Praxis vorstellig zu werden: „Die werden einen ja hoffentlic­h nicht wegschicke­n.“

Mehr Geburten und aufwendige­re Betreuung

Ärzte, Zahnärzte, Psychother­apeuten, Krankenhäu­ser und Krankenkas­sen in Deutschlan­d. Die Umsetzung liegt bei den Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen.

● Inhalt Konkret wird festgelegt, wie viele Ärzte und Psychother­apeuten jeweils für eine bestimmte Bevölke rungsanzah­l zur Verfügung stehen sollen (Verhältnis­zahl – Ärzte pro Ein wohner). (mz)

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Foto: dpa Bei der Sorge um ihren Nachwuchs einen Kinderarzt als Ansprechpa­rtner zur Seite zu haben – für Eltern eine wichtige und beruhigend­e Gewissheit. Doch die Suche nach einem solchen Mediziner gleicht für manche Eltern inzwischen einer Odyssee, denn die Ärzte in Memmingen und dem Unterallgä­u arbeiten an der Belastungs­grenze.

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