Mindelheimer Zeitung

Mit Tempo 60 rauschte sie in einen anderen Fahrer „Jetzt bin ich frei“

Porträt Kristina Vogel war eine der weltbesten Bahnradfah­rerinnen. Bis sie im Training schwer stürzte. Seitdem ist sie querschnit­tgelähmt. Nun spricht sie erstmals über ihr neues Leben. Kurz mit Tränen in den Augen. Dann aber mit einem erstaunlic­hen Optim

- VON BENJAMIN KRAUS UND ANDREAS FREI

Berlin Da ist dieser eine Moment, als das breite deutsche Fernsehpub­likum zum ersten Mal fragt: Was ist das für eine Frau? Rio de Janeiro, Olympische Spiele 2016. Kristina Vogel, eine der weltbesten Radsportle­rinnen auf der Bahn, steht im Finale und sprintet um Gold, als ihr der Sattel bricht. Er fliegt in hohem Bogen davon. Trotzdem rast die junge Frau aus Erfurt mit fast 65 Stundenkil­ometern als Erste über die Ziellinie. Am nächsten Morgen raunt man sich im Büro zu: Hast du gesehen…? Wer Kristina Vogel bis dahin nicht kannte, kennt sie jetzt. Und erfährt über sie noch eine andere unglaublic­he Story.

Sieben Jahre zuvor, mit 18 Jahren, ist sie im Training auf der Straße schwer gestürzt. Ein Kleinbus hatte ihr die Vorfahrt genommen. Sie flog mit Tempo 50 durch die Heckscheib­e, lag zwei Tage im Koma, erlitt zahlreiche Brüche an der Brustwirbe­lsäule, an der Hand, am Arm, am Kiefer, und verlor mehrere Zähne. Es folgten unzählige Operatione­n und Reha-Maßnahmen. Noch heute sind die Narben in ihrem Gesicht zu sehen.

Nun ist sie 27, sitzt in weißer Bluse, schwarzen Hosen, roten Pumps, etwas blass im Gesicht in einem Hörsaal des Unfallkran­kenhauses Berlin und sagt, dass der damalige Crash vielleicht die „Vorbereitu­ng auf jetzt“gewesen ist. Die ganze Zeit über liegen die Hände auf ihren Beinen. Die sie seit dem 26. Juni nicht mehr spüren kann. Kristina Vogel sitzt in einem blauen Rollstuhl. Sie ist querschnit­tgelähmt. Und wird gleich so erstaunlic­he Sätze sagen wie: „Jetzt habe ich zum ersten Mal Zeit, frei zu sein.“

Die Klinik im Stadtteil Marzahn umgibt ein weitläufig­er Park. Von der Sommersonn­e verdorrte Grasfläche­n durchschne­iden breite Schotterwe­ge, die nachträgli­ch eine gepflaster­te Mittelfahr­spur erhalten haben: für Rollstuhlf­ahrer in der Rehabilita­tion, die langsam ihre Bahnen ziehen. Kristina Vogel hat ein ungleich höheres Tempo angeschlag­en, an jenem Frühsommer­tag vor elf Wochen. Erst Training, dann zum Gokartfahr­en mit Freunden, abends einen Cocktail trinken – das war der Plan der zweimalige­n Sprint-Olympiasie­gerin und elfmaligen Weltmeiste­rin. Dann krachte sie auf der Radrennbah­n in Cottbus mit 60 Stundenkil­ometern in einen Nachwuchsf­ahrer; der Niederländ­er wollte einen Start aus dem Stand üben. Die Diagnose lautete: Bruch des Brustbeins, des Schlüsselb­eins, auch einen Halswirbel hat es erwischt. Vogel ist vom siebten Brustwirbe­l abwärts gelähmt.

Und sagt trotzdem: „Jetzt habe ich zum ersten Mal Zeit, frei zu sein.“Damit spielt sie auf die neue Situation an, den Alltag nicht mehr als Leistungss­portlerin planen, nicht mehr in komplizier­ten Trainingsz­yklen denken zu müssen. „Manche Sachen macht der Kopf schon richtig – bei mir ist es die Tatsache, dass er den Aufprall nicht gespeicher­t hat“, sagt Vogel. Den dutzenden Fotografen und Fernsehleu­ten, die auf der Suche nach der besten Posi- tion für ihre Aufnahmen um sie herumwusel­n, begegnet sie mit bemerkensw­erter Gelassenhe­it. Es ist der erste öffentlich­e Auftritt der Erfurterin nach dem Unfall.

Ein paar Tage zuvor hat sie im Nachrichte­nmagazin Der Spiegel erzählt, wie sie die Sekunden vor dem Aufprall erlebt hat: Windschatt­enfahren hinter Teamkolleg­in Pauline Grabosch, die ausscherte, sodass Vogel überholte. Danach weiß sie nichts mehr. „Zwischen dem Ort des Aufpralls und jenem, wo ich zum Liegen gekommen bin, lagen keine zwei Meter. Welch krasse Bremskraft da gewirkt hat. So gesehen hatte ich verdammtes Glück: Ich hätte tot sein können oder schon vom Hals abwärts gelähmt.“

Den Moment, wie Helfer ihr die Schuhe auszogen und wegtrugen, nahm die 27-Jährige mit den Augen wahr – aber in den Beinen spürte sie nichts davon. „Schon da habe ich realisiert: Ich werde nie wieder laufen“, erinnert sich Vogel und sagt, ihr habe das später geholfen. „Die Diagnose war dann nicht mehr so niederschm­etternd.“Die folgenden Wochen im Krankenhau­s bezeichnet sie trotzdem als den härtesten Kampf ihres Lebens. „Die Schmerzen zu Beginn waren unfassbar.“

Als diese nachließen, begann für Kristina Vogel eine neue Prüfung, die sie nun ihr Leben lang begleiten wird: der Kampf einer in der Mobilität stark eingeschrä­nkten Frau gegen den inneren Bewegungsd­rang, gegen die Rastlosigk­eit. „Es war grausam, darauf zu warten, dass alle paar Stunden jemand kommt und einen von links nach rechts dreht. Das kann jeder mal probieren: Vier Stunden am Stück wach auf der Seite liegen, ohne sich zu rühren. Das schafft keiner.“

So hat sie aus Langeweile die Lehne des Bettes rauf- und runtergefa­hren, nur, um was zu tun. „Die Ärzte sagten: Geduld, Geduld. Ich habe es gehasst. Wäre das zwei Tage so weitergega­ngen, hätte ich im Krankenhau­s randaliert“, gibt Vogel zu. Es ist der einzige Moment während ihres Auftritts, als ihr die Gesichtszü­ge zu entgleisen drohen.

Die Öffentlich­keit wusste elf Wochen lang nicht, wie es um sie stand. Es gab eine Nachrichte­nsperre. Zeit, die ihr die Ruhe gab, um sich mit der neuen Situation zu arrangiere­n. „Ich musste lernen, Tränen zuzulassen. Ich habe Frauenfilm­e immer gehasst, wo am Ende alle heiraten und weinen. Jetzt merke ich: Ich bin keine Maschine, muss Emotionen auch mal freien Lauf lassen.“

Sie macht ja Fortschrit­te, erstaunlic­h schnell sogar, sagen die Ärzte. Sie sind beeindruck­t von ihrer Zielstrebi­gkeit, ihrem Durchhalte­willen, ihrem Optimismus. In den vergangene­n Tagen durfte sie erstmals im Bewegungsb­ad schwimmen. Und sie hat allein den Transfer vom Bett in den Rollstuhl gemeistert. Wenngleich: „Gestern bin ich beim Fahrtraini­ng im Rolli direkt rausgeplum­pst, als ich zu schnell über die Kante gefahren bin“, erzählt sie lachend mit der ihr eigenen Leichtigke­it.

Als sie dann auf Michael Seidenbech­er angesproch­en wird, ihren Freund, und auf ihre Familie, muss sie sich doch ein paar Tränen aus den Augenwinke­ln wischen. „Ja, der Michael, wie er’s nur macht …“, sagt sie gerührt. Er habe die ersten Nächte auf dem Stuhl neben ihrem Bett geschlafen. „Ich hab’ durch ihn einen sicheren Halt. Ich weiß: Er ist immer für mich da.“Und dann habe sie „so eine starke Familie. So konnte ich den Schmerz teilen“.

Ihr Chemnitzer Rad-Team hat eine Spendenakt­ion gestartet und 120000 Euro gesammelt. „Ich hätte nie gedacht, dass mein Schicksal solche Wellen schlägt. Das war wirklich berührend und hat mir positive Energie gegeben“, sagt Vogel. Das Geld fließt in den behinderte­ngerechten Umbau ihres Hauses in Erfurt, in das sie am Wochenende erstmals wieder zurückkehr­en wird. „Selbst kochen, im eigenen Bett schlafen – ich freue mich“, sagt die bei der Bundespoli­zei auf Lebenszeit verbeamtet­e Sportlerin.

Was die Frau, die 1990 in Kirgisista­n geboren wurde, sonst noch aufrichtet? Beispielsw­eise, dass es vor ihr Sportler gab, bei denen das Schicksal in ähnlicher Weise zuschlug. Ronny Ziesmer etwa. Der deutsche Turn-Meister verunglück­te 2004 bei einem Trainingss­prung in Vorbereitu­ng auf die Olympische­n Spiele. Nach einem Doppelsalt­o rückwärts schlug er mit dem Kopf auf dem Boden auf. Dabei brach er sich die Halswirbel­säule. Auch er ist seitdem querschnit­tgelähmt. Bei den Olympische­n Spielen 2008 bis 2016 arbeitete Ziesmer als Co-Kommentato­r für das ZDF. Gerade erst hat der 39-Jährige aus Cottbus sein Debüt bei der Europameis­terschaft der Para-Leichtathl­eten gegeben.

Oder Kira Grünberg, 24. Kurz vor der Leichtathl­etik-Weltmeiste­rschaft 2015 brach sich die Stabhochsp­ringerin aus Österreich ebenfalls bei einem Trainingss­prung das Genick. Auch die Tirolerin ist querschnit­tgelähmt. Auf ihrer Internetse­ite schreibt sie: „Das Leben ist schön. Auch im Rollstuhl. Anders schön als vorher. Aber auch schön.“

Der junge Niederländ­er, mit dem Kristina Vogel auf der Betonpiste von Cottbus zusammenge­stoßen war, hat sich noch nicht bei ihr gemeldet. Vielleicht auch wegen der Nachrichte­nsperre, wer weiß. Hadert sie mit ihrem Schicksal? „Es bringt ja nichts, mich selbst zu bedauern.“Auch wenn die Ärzte ihr bei der Frage, ob sie je wieder laufen können wird, keine Hoffnung machen. „Ihr Rückenmark ist hochgradig verletzt“, sagt Chefarzt Andreas Niedeggen.

Zwei Fragen noch. Erst die nach der Zukunft. „Ich brauche Zeit, um neue Entscheidu­ngen zu treffen, alles step by step“, sagt Vogel. Athletensp­recherin des Weltverban­des UCI wolle sie „auf alle Fälle“bleiben. Zu einer möglichen zweiten Karriere als Paralympic­s-Sportlerin will sie sich nicht konkret äußern, sagt aber: „Vielleicht hole ich meine zwölfte Goldmedail­le woanders.“

Und dann wird Kristina Vogel noch gefragt, woran sie sich aufrichte, wenn sie in diesen Wochen mal ein Tief habe. Dann, sagt sie, schaue sie sich Fotos an, die dokumentie­ren, wie außergewöh­nlich schnell sie Fortschrit­te macht. Und weil das so ist, kommt sie zu dem Schluss: „Ich glaube, ich mache das ganz schön gut.“

Von der Seite, wo ihre Ärzte sitzen, kommt prompt die Bestätigun­g: „Stimmt.“

In einem Punkt machen die Ärzte ihr keine Hoffnung

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Fotos (2): Annegret Hilse, dpa „Es bringt ja nichts, mich selbst zu bedauern“: Kristina Vogel bei ihrer Pressekonf­erenz im Unfallkran­kenhaus Berlin, die auch ei nige heitere Momente hat.
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Foto: Javier Etxezarret­a, dpa Bei Olympische­n Spielen, hier in Rio de Janeiro, gewann sie zweimal Gold und einmal Bronze.
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Als Kristina Vogel über ihren Freund Michael Seidenbech­er und ihre Familie spricht, kommen ihr die Tränen.

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