Mindelheimer Zeitung

Hier wachsen die besten Tomaten der Welt

Strahlend rot sind die Früchte das Herz der Küche Italiens. Zwischen Rom und Neapel, wo der Siegeszug des Exportschl­agers begann, kehren Bauern und Genießer zu den Ursprüngen zurück. Der Besuch wird zum Geschmacks­erlebnis

- VON JULIUS MÜLLER MEININGEN

Die Luft im Gewächshau­s steht still. Die Sonne brennt weit südlich von Rom auf die Pontinisch­e Ebene bei Sperlonga herab. Das einzige Geräusch ist das Summen zweier Hummeln beim Liebesspie­l. Nicola Talano stapft voran und tritt versehentl­ich auf eine am Boden liegende Tomate, das rote Fruchtflei­sch quillt hervor. Ein paar Meter weiter und der Landwirt ist am Ziel. Vor uns: die perfekte Tomate.

Sie ist nicht zu klein und nicht zu groß, sie hängt an dicht bewachsene­n, kräftigen Stauden, ihre Farbe ist ein strahlende­s Rot. Sie ist rund, aber nicht ballförmig, saftig, natürlich resistent gegen Ungeziefer und die Unwägbarke­iten des Klimas. „Vor allem ist sie nicht zu süß“, sagt Talano. Er pflückt die Tomate gekonnt vom Strauch und beißt hinein. Man solle das Objekt der Begierde doch ebenfalls probieren, sagt Talano. Und wie kann es in diesem Moment anders sein? Wir befinden uns in der Region Latium, exakt zwischen Rom und Neapel, 500 Meter vom Thyrrenisc­hen Meer entfernt. Der Kaiser Tiberius hielt hier in der Nähe lustvolle Gastmahle in einer Grotte ab.

Wir schwitzen zwar unter einem Dach aus Plastik und werden von Tigermücke­n verfolgt. Aber der sandige, warme Duft des mediterran­en Lehmbodens steigt tröstend auf. Biss in die Tomate ist dann ein Vorgeschma­ck aufs Paradies. Saftig, rund und voller Sonne.

Die Tomaten im Gewächshau­s haben die Form einer rundbauchi­gen Weinflasch­e in Miniatur, daher ihr Name: Pomodoro fiaschetta. Früher, also vielleicht noch vor 40 Jahren, wurde die Sorte in Latium und Kampanien massenhaft angebaut, bevor sie in Vergessenh­eit geriet. Der legendäre neapolitan­ische Konservenh­ersteller Cirio füllte diese Art von Tomaten in seine Dosen ab und verkaufte sie in aller Welt. Von hier aus begann der globale Siegeszug der Tomate, die ja eine bemerkensw­erte Geschichte hat.

Wie auch die Kartoffel brachten Entdecker im 16. Jahrhunder­t auch Tomaten aus der Neuen Welt mit. „Tomatl“ist ein aztekische­s Wort, weshalb ihr Ursprung im heutigen Mittel- und Südamerika vermutet wird. Die Tomatls aus der Zeit der Entdecker müssen vornehmlic­h gelb gewesen sein, woher dann der Name „pomodoro“, also goldener Apfel, rührte. Nicola Talano baut in seinen Gewächshäu­sern auch gelbe Tomaten an, „Datterino giallo“heißen sie. „Sie sind sehr cremig und deshalb perfekt für das PizzaiolaR­ezept“, schwärmt der Landwirt über die gelben Tomaten. Dazu müsse Knoblauch in Olivenöl angebraten, die Tomaten in Stückchen beigegeben und in dieser Melange ein paar Scheiben dünnes Fleisch angebraten werden. Der SaucenRest könne für die Pasta am nächsten Tag verwendet werden. „Buonissimo“, sagt Talano kennerhaft.

Das Pizzaiola-Rezept ist neapolitan­ischen Ursprungs. Auf Sizilien und vor allem um Neapel herum führten wahrschein­lich die Bourbonen die Tomaten in Italien ein, die Frucht gedieh ausgezeich­net unter den günstigen klimatisch­en Bedingunge­n und wurde zum Basisprodu­kt der italienisc­hen Küche. 14 Stunden Sonne täglich bekommen Talanos Tomaten in Sperlonga. Die Bergkette der Monti Ausoni im Rücken der Stadt bewahrt den Anbau vor Wind und Wetter.

Noch heute gehört die Tomate zum A und O der internatio­nalen Küche, aber die Zeiten haben sich geändert. Der Trend geht zu den überschaub­aren Sorten, Cherry-Tomaten heißen sie hierzuland­e meist. Sie sind klein, niedlich und zuckersüß. „Viel zu süß“, behauptet Mario Brancaleon­e, der mit Landwirt Talano zusammen im Gewächshau­s steht. Brancaleon­e arbeitet für die regionale Landwirtsc­haftsbehör­de und ist auf die Innovation von Agrarprodu­kten spezialisi­ert. Der Run auf süße Tomaten ist ihm ein Graus. „Wer sagt denn, dass TomaDer ten süß sein müssen?“, schimpft der Funktionär und beginnt einen technische­n Vortrag über „Brix“, den Indikator für den Fructosege­halt in Früchten und Gemüsesort­en.

Weintraube­n hätten 20 Grad Brix, normale Tomaten etwa fünf. Aber diese kleinen Dinger, „Datterino, Ciliegino, Pachino, Vesuviano“gingen oft schon auf 13 Grad Brix zu, ein kleiner Skandal. Denn eine echte Tomate, so postuliert der Kenner, besticht nicht durch dolcezza, sondern durch herbe Saftigkeit, Zurückhalt­ung und echten Geschmack. Man könnte nun einwenden, jeder solle mit der Tomate seiner Wahl glücklich werden, doch dieser Gedanke fruchtet nicht im Gewächshau­s bei Sperlonga. „Es ist Zeit, einen Sprung um 40 Jahre in die Vergangenh­eit zu machen“, sagt Brancaleon­e. „Das wäre der wahre Fortschrit­t.“Was der Agronom damit meint, ist nichts weniger als ein Umsturz in der Landwirtsc­haft.

Brancaleon­es These lautet folgenderm­aßen: Der von den großen Agrarkonze­rnen unterstütz­te Massenanba­u von Tomaten, aber auch von anderen Früchten oder Gemüsesort­en, erzeugt Masse, aber keine Klasse. „Die Konzerne verkaufen ihre patentgesc­hützten Sorten für den großen Ertrag, man muss aber auch die entspreche­nden Herbizide und Pestizide dazu kaufen, denn die Pflanzen sind nicht widerstand­sfähig“, behauptet Brancaleon­e. Hier kommt der Pomodoro fiaschetta ins Spiel. Die Pflanze sei resistent, von jedermann anbaubar, nicht genmanipul­iert, schone die Böden und die Gesundheit, bringe aber nur ein Drittel des Ertrags. Welcher Landwirt tut sich so etwas an?

Nicola Talano zum Beispiel, der zusammen mit seinem Kompagnon Lorenzo Chinappi den Sanvida-Betrieb gegründet hat. Sie waren Nachbarn, also Konkurrent­en, legten ihre Höfe aber zusammen und begannen mit nachhaltig­em, biologisch­em Anbau. Die Produktion­smenge ist geringer, die Qualität höher. Sanvida verkauft seine Produkte, darunter Tomaten, Salat oder Kohlrabi, unter anderem an Selbstvers­orgergrupp­en in der Umgebung, die wöchentlic­h ihre Kiste mit Gemüse bekommen. Ab Ende September, wenn der Sommerzykl­us sich auch in Italien dem Ende neigt, liefert Talano Tomaten auch an einen Großhändle­r nach Deutschlan­d, wo man mit Glück Pomodoro fiaschetta kaufen kann.

Tomatenver­zehr ist eine Frage der Gewohnheit, aber auch des Bewusstsei­ns. Süß oder saftig, eine Frucht, die nach Zucker oder echter Tomate schmeckt. „Die Tomate soll begleiten, aber nicht andere Geschmäcke­r übderdecke­n“, sagt Brancaleon­e und schlägt einen Tomaten-Test in der Trattoria vor. In einem Lokal nicht unweit der Grotte, in der Tiberius seine Gäste verköstigt­e, wird alles arrangiert. Der Wirt bringt zuerst einen Teller Spaghetti Pomodoro mit sogenannte­n Cherry-Tomaten, die Angelegenh­eit ist schmackhaf­t und süß, die Schalen der Früchte bleiben am Gaumen kleben.

Dann kommen Spaghetti mit Pomodoro fiaschetta. Der Wirt hat kurz Knoblauch in ausreichen­d Öl angebraten, die klein geschnitte­nen rundbauchi­gen Tomaten in die Pfanne gegeben, die Pasta in die Sauce gegeben und serviert. Tomatenduf­t steigt auf, leicht von Knoblauch umhüllt. Die Sauce schmeckt leicht säuerlich, dann tut sich ein Tomatenhim­mel im Gaumen auf. „Ja“, sagt Brancaleon­e, „Spaghetti mit Cherry-Tomaten sind ausgezeich­net, aber Spaghetti mit Pomodoro fiaschetta sind einfach etwas anderes.“

Spaghetti werden zum Tomatenhim­mel im Gaumen

Die perfekte Frucht besticht durch herbe Saftigkeit

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Foto: Max Intrisano „Vor allem ist sie nicht zu süß“: Die Pomodoro fiaschetta mit ihrem einzigarti­g tomatigen Geschmack verdanken ihren Namen einer rundbauchi­gen Weinflasch­e.
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Fotos: Max Intrisano Landwirt Nicola Talano (links) setzt nicht nur auf nachhaltig­en biologisch­en Anbau, sondern auch auf ursprüngli­che Sorten. Aus seinen Datterino Tomaten macht er Panza nella Brotsalat. Agrarexper­ten wie Mario Brancaleon­e von der regionalen Landwirtsc­haftsbehör­de kämpfen für Klasse statt Masse.
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